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Aufbruch auf der Basis des Bewährten

Prof. Hertwig, es ist lange her, aber können Sie sich noch erinnern, was Ihnen spontan durch den Kopf ging, als man Sie für die Aufgabe des Gründungsrektors ansprach?

Zwei Gedanken gingen mir durch den Kopf: Ich bekam die Chance, vieles an Bildungstraditionen aus den vergangenen Jahrzehnten von der Technischen Hochschule in Köthen und der Hochschule für Land- und Nahrungsgüterschaft in Bernburg zu erhalten. Und ich begann gleich zu überlegen, wie sichergestellt werden konnte, dass die vielen hundert Studentinnen und Studenten in Bernburg und Köthen auch nach der Gründung der Fachhochschule (FH) und der Abwicklung der Vorgängerinstitutionen zu Ende studieren konnten.

 

Was war der Anlass für die Gründung der neuen Hochschule? Das waren ja politisch spannende Zeiten. Würden Sie sagen, dass eine strukturelle, inhaltliche und personelle Erneuerung angezeigt war? Ging es darum, das Hochschulsystem der DDR an den Westen Deutschlands anzugleichen?

Das war eine bewegte Zeit, damals ein Jahr nach dem Vollzug der deutschen Einheit. Wir wussten, dass sich die Hochschullandschaft in Sachsen-Anhalt und im gesamten Osten neu gestalten muss und Veränderungen auf uns zukommen. Wir hatten eine Reihe von Konzepten entwickelt, wie die neue Hochschullandschaft aussehen könnte. Wir hatten sogar an eine universitäre Entwicklung gedacht. Aber zur selben Zeit und zur selben Problematik stellte die Hochschulstrukturkommission des Landes Sachsen-Anhalt ihre Pläne vor. Welche Hochschulen, welche Strukturen, welche Universitäten, welche Fachhochschulen – im Wesentlichen war das Gerippe schon festgelegt.

Wir hatten uns natürlich auch mit dem Status einer Fachhochschule befasst, wie er in den alten Bundesländern üblich war, wir wussten, dass kompatible Strukturen entwickelt werden müssen und wir nicht im großen Stil eigene Wege gehen können. Dass eine eigenständige anhaltinische Universität eine Chance haben könnte, das war für eine so kleinteilige Hochschullandschaft nicht wahrscheinlich. Zudem gab es seitens der Strukturkommission das Bemühen, zwei Universitäten in Sachsen-Anhalt zu entwickeln. Da war es sinnvoll, dass eine Einrichtung wie die Ingenieurhochschule, zum damaligen Zeitpunkt schon die Technische Hochschule in Köthen, mit einer stark praxisorientierten Ausrichtung, sich in Richtung Fachhochschule entwickelt.

Prof. Klaus Hertwig im Interview

„Der Minister rief mich an und sagte: Ich schicke Ihnen jetzt die Urkunde und Sie machen das.“

 

 

Wie haben Sie damals für sich die Aufgabe definiert? Und haben Sie das Amt eher als Ehre oder als Last begriffen?

Keinesfalls als Last! Es war schon in gewissem Sinne eine Ehre. Ich wusste auch gar nicht, auf welchem Wege ich zu diesem Ruf gekommen war. Das habe ich in den vergangenen Jahrzehnten auch nicht herausbekommen. Ich glaube, der wissenschaftliche Nachwuchs der Technischen Hochschule hat sich sehr stark für mich eingesetzt. Aber das war damals gar nicht so wesentlich. Ich hatte diese Aufgabe bekommen, der Minister rief mich an und sagte: „Ich schicke Ihnen jetzt die Urkunde und Sie machen das.“ Ich war praktisch der einzige Mitarbeiter dieser Einrichtung zu diesem Zeitpunkt am 1. Oktober 1991. Da ging es darum, Konzepte zu entwickeln und vor allen Dingen die kurzfristigen Aufgaben zu erledigen: Was machen wir mit den Studentinnen und Studenten, die bereits mit dem Studium angefangen hatten? Sie sollten möglichst keine unangenehmen Folgen aufgrund der Veränderungen haben und das ist auch gelungen.

 

Die Studierenden aus den Vorgängerinstitutionen und der Fachhochschule studierten also zusammen?

Ja, ja. Das war eine ganz rasche Entwicklung. Schon im Wintersemester 1991/1992, also mit Gründung der Fachhochschule, haben wir die ersten Studierenden in die Fachhochschulstudiengänge hineingenommen. Das waren zwei verschiedene Kategorien. Einmal konnten, sich die vorhandenen hier immatrikulierten Studierenden entscheiden, ob sie in den Fachhochschulstudiengang hinein oder im vorhandenen Studiengang der Technischen Hochschule verbleiben wollen. Da ging es darum: Erwerbe ich ein FH-Diplom oder strebe ich das Diplom an einer universitären Einrichtung an, wie es die Technische Hochschule war? Für beide Optionen gab es Interessenten.

 

War der Unterricht derselbe?

[Lacht] Ja, es lehrten dieselben Personen. Es waren ja zunächst auch gar keine anderen da. Die Professorinnen und Professoren, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Laborkräfte und die Verwaltung: Alle waren sowohl für die TH als auch für die neuen FH-Studenten zuständig. Es gab übrigens noch eine zweite Kategorie von Studierenden. Mehr als 100 junge Menschen kamen von Ingenieurschulen der DDR zu uns. Nach einer dreijährigen Ingenieurausbildung wurde ihnen die Möglichkeit gegeben, an eine Fachhochschule, wie die unsere, zu wechseln und das FH-Diplom in einem einjährigen Kurs zu erlangen, sodass wir schon Gruppen hatten, die im Grunde genommen vom ersten Tag an FH-Studierende im Maschinenbau, der Verfahrenstechnik in Köthen und auch in der Landwirtschaft in Bernburg waren.

 

Bis 1996 lenkten Sie die Geschicke der Fachhochschule Anhalt. Woran erinnern Sie sich gerne?

Wenn man etwas aufbauen kann, ist das eine schöne Aufgabe – auch wenn man bei Null anfängt wie wir damals. Wir haben uns bemüht das Personal, also die Professorinnen und Professoren, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch die Kolleginnen und Kollegen der Verwaltung möglichst schnell in die neue FH hineinzubekommen, sofern sie geeignet waren. Die Studentenzahlen gingen systematisch nach oben. Es kamen immer mehr Studiengänge hinzu. Der Standort Dessau wurde ein halbes Jahr später eröffnet. Das war eine schöne Situation und die Zunahme der Studentenzahlen sprach dafür, dass auch diese Ausbildung auf Fachhochschulniveau, also die praxisorientierte Hochschulbildung, gut angenommen wird. Das Interesse war riesig, wir waren in den ostdeutschen Ländern die größte Fachhochschule. Das hat mir große Freude bereitet und ich habe mich über alle gefreut, die neu eingestellt werden konnten.

Was war weniger angenehm?

Für eine ganze Anzahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Köthener und der Bernburger Einrichtungen gab es keine Möglichkeit, an der FH eine Beschäftigung zu bekommen. Da gab es mitunter sehr traurige Situationen. Wir hatten mehr als 200 wissenschaftliche Mitarbeitende in den Vorgängereinrichtungen und zehn neue Fachbereiche in der FH. Da blieb für jeden Fachbereich nur eine wissenschaftliche Fachkraft übrig. Das war im Grunde genommen fast nichts. Aber das war eben die Kleiderordnung an einer Fachhochschule dieses Typs, die nur schrittweise geändert werden konnte.

 

 

 „Wenn die Sekretärinnenstelle eines Professors nicht mehr besetzt werden konnte, waren die Professorinnen und Professoren so flexibel, dass sie selbst die Studienpläne getippt haben.“

 

Viele der ersten Professorinnen und Professoren stammten aus den Fachhochschulen der alten Bundesländer. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen den Lehrenden mit Ost- und Westbiografie? Trafen da Welten aufeinander? Gab es ein Miteinander?

Bei der Auswahl der Gründungsdekanin und der neun Gründungsdekane, zehn wichtige Personen für zehn Fachbereiche, hatte ich große Unterstützung durch die Fachhochschule Aachen. Sie sendete uns drei Gründungsdekane und zwar für Gebiete, in denen wir keine Erfahrung hatten. Das war vor allem in Elektrotechnik, Architektur, Bauingenieurwesen und Design. Ich war sehr froh, dass wir Unterstützung von dieser Einrichtung bekamen. Darüber hinaus habe ich darauf geachtet, dass es ungefähr ausgeglichen war, was Ost und West betrifft. Wir haben auch aus den eigenen Reihen hervorragende Persönlichkeiten gefunden, die als Gründungsdekane tätig wurden. Von allen wurde erwartet, dass sie flexibel sind; das hat alle geeint. Wenn die Sekretärinnenstelle eines Professors nicht mehr besetzt werden konnte, waren die Professorinnen und Professoren so flexibel, dass sie selbst die Studienpläne getippt haben. Zu DDR-Zeiten wäre es undenkbar gewesen, dass ein Professor selbst tippte. Es gab also Dinge, die die Westkollegen über die fachliche Arbeit hinaus auch eingebracht haben. Die drei Aachener, die ja bereits im Ruhestand waren und für diese Aufgabe reaktiviert wurden, haben zum Beispiel eine Wohngemeinschaft gegründet. Sie fanden das ganz spannend noch einmal so etwas zu erleben. [Lacht]

 

Darf ich Sie auch danach fragen, welche Gründe ausschlaggebend dafür waren, dass Sie sich nach 1996 nicht mehr zur Wahl stellten?

Das ist ganz einfach gesagt: Die Stelle war eine Sieben-Tage-Beschäftigung. Viel Verwaltungstätigkeit, viel Personalentwicklung. Es war eine intensive Zeit und ich übernahm viele Aufgaben, die nichts mit meiner wissenschaftlichen Arbeit zu tun hatten. Nur mit Mühe habe ich in diesen fünf Jahren wöchentlich zwei Vorlesungen halten, meine Doktoranden betreuen und mich etwas um mein Wissenschaftsgebiet kümmern können. Ich wollte gern wieder mit Studierenden arbeiten, Vorlesungen halten, in meinem Forschungsgebiet viel stärker tätig sein und letztlich auch mehr Zeit für die Familie haben.

Prof. Klaus Hertwig im Interview

„Deshalb freut es mich riesig zu hören, dass der Hochschule vor Kurzem das Promotionsrecht verliehen wurde.“

 

30 Jahre Hochschule Anhalt: Entspricht die heutige Hochschule dem, was vor drei Jahrzehnten vereinbart wurde?

Ich würde sagen, die Grundstruktur der Ausbildungsgänge ist im Kern erhalten geblieben und sinnvoll weiterentwickelt worden. Das konzipierte Studienkonzept entsprach dem, was in Köthen seit 1891 geschehen ist und was in Bernburg schon viele Jahre gelehrt wurde. Das war der Kern und dort konnte man auch am schnellsten etwas entwickeln. Vieles ist hinzugekommen, zum Beispiel die Ausbildung in Studiengängen wie Elektrotechnik oder Informatik in Köthen oder der Studiengang Wirtschaftsrecht und einige weitere in Bernburg oder die kompletten Dessauer Studiengänge.

Seit der Gründungsphase sehe ich eine kontinuierliche Weitentwicklung. Einzig im Jahre 2000, da hat das Landeswissenschaftsministerium die Strukturen der Hochschulen in Sachsen-Anhalt noch einmal gestrafft. Der Studiengang Architektur ist als einziger im Land in Dessau verblieben, während Bauingenieurwesen nach Magdeburg ging. Die Köthener Studiengänge hat es kaum betroffen.

Neben der Ausbildung geht es ja auch um die Forschung. Wir haben uns von Anfang an sehr darum bemüht, dass die Forschungstätigkeit erhalten bleibt und weiterentwickelt werden kann. Das ist auch bis heute so geblieben. Sie wissen ja selbst, was heute an Drittmitteln eingeworben wird. Vieles haben die Kolleginnen und Kollegen, die schon zu DDR-Zeiten sehr aktiv waren, eingeworben. Und es gab damals an der Technischen Hochschule in Köthen das Promotionsrecht. Viele haben wir zum Doktortitel geführt. Deshalb freut es mich riesig zu hören, dass der Hochschule Anhalt vor Kurzem ebenfalls das Promotionsrecht verliehen wurde.

 

An Jubiläumstagen schaut man ja gerne zurück. Haben Sie eine skurrile Situation erlebt, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist aus den Anfangsjahren der Hochschule?

Dass es zwei Rektoren in einem Hause gab. Professor Kurt Gramlich, der bis 1993 die Technische Hochschule leitete und letztlich abzuwickeln hatte. Und ich, der die Fachhochschule aufbaute. Dass zwei Rektoren zweier Hochschulen Zimmer an Zimmer sitzen, ist schon eine außergewöhnliche Situation. Und dass das auch noch funktionierte, das war schon skurril. Wir haben uns auch immer einen Spaß gemacht bei der Frage, wer ist denn dein Professor und wer meiner? Wer sitzt denn dort in der Vorlesung; sind das FH-Studenten oder TH-Studenten? Das war schon eine eigenartige Situation, aber im Sinne der Entwicklung wollten wir beide, dass es zukunftsfest weitergeht und die Studenten versorgt sind. Das war das Wichtigste.

 

Professor Hertwig, herzlichen Dank für das Gespräch.

Schauen sie sich auch das Video zum Interview an.

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