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Während des Studiums formen sich Persönlichkeiten

„Je älter ich werde, desto respektvoller bin ich den jungen Studierenden gegenüber“, sagt Professor Nicolai Neubert, „sie bringen unverstellt ihre Meinung ein. Sie lernen nicht nur von mir, ich lerne auch von ihnen.“

Seine Aufgabe als Lehrender sieht er nicht nur darin, Wissen zu vermitteln, sondern den Studierenden dabei zu helfen, sich selbst zu formen. Neubert hat an der Hochschule der Künste in Berlin Industrial Design studiert, freiberuflich für Designbüros gearbeitet und in Berlin das „studio 7.5“ mitgegründet. 1996 kam er als Lehrbeauftragter an die Hochschule Anhalt nach Dessau, ein Jahr später wurde er zum Professor berufen. Produkt-Design und CAD/Technologie sind seine Fachgebiete.

Teamplayer statt Künstler-Eremiten

Anfangs sei die Ausbildung konventioneller gewesen, klassisch an den Künsten orientiert, es sei viel modelliert und geformt worden. Heute habe die Kommunikation einen sehr hohen Stellenwert. „Designprozesse sind Teamprozesse“, betont Neubert. Designer müssen mutig sein, sich auf Neues einzulassen, bereit sein, ihre Komfortzone zu verlassen und zu erweitern. „Sie müssen neugierig sein und für ihre Ideen brennen.“

Der Studiengang Integriertes Design gibt den Studierenden viele Werkzeuge in die Hände, um die Lebenswelten von morgen mitzugestalten. Auf zwei Semester Ausbildung in den Grundlagen folgt ein Orientierungssemester, in dem sich die Studierenden in Produkt-, Kommunikations- und Mediendesign ausprobieren. Dann steht die Entscheidung an: Wollen sie sich auf eine Designdisziplin fokussieren oder wählen sie die Mischung aus allen dreien? Diese freien Wahl- und Kombinationsmöglichkeiten zeichnen das Designstudium an der Hochschule Anhalt aus.

„Die Studierenden entwickeln Methodenkompetenz und sie lernen, Fragen der Gestaltung im Zusammenhang mit Inhalten und Ethik zu betrachten“, ergänzt Brigitte Hartwig, Professorin für Kommunikationsdesign. Sie führt das Baumwoll-T-Shirt als Beispiel an: Hier geht es nicht nur um Schnitt, Farbe und Motiv, mit dem es bedruckt wird. Es geht auch darum, unter welchen Bedingungen die Baumwolle produziert wurde und wie die Kleidung wieder in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden kann.  

„Wir denken gemeinsam darüber nach, wie wir Menschen dazu verführen können, so zu handeln, dass eine nachhaltige Lebensweise für sie interessant ist“, sagt Hartwig. Eine Studierende hat beispielsweise ihre Bachelorarbeit der Frage gewidmet, wie chemische Haushaltsreiniger durch natürliche Produkte ersetzt werden können. Das Engagement für den Umweltschutz mündete in eine Produktidee, den Sauberkasten. „Wer Impulse für neues Konsumverhalten setzen will, muss die Zielgruppe kennen und die Botschaften genau adressieren“, betont Brigitte Hartwig.

Die 55-Jährige hat in Darmstadt und Berlin Visuelle Kommunikation mit den Schwerpunkten Ausstellungsdesign und Neue Medien studiert und in beiden Städten für Designbüros gearbeitet. 2003 bewarb sie sich auf die Professur in Dessau. Seit zwölf Jahren lebt sie in der Bauhausstadt: „Die Bevölkerung ist überaltert, jungen Leuten fehlen die Partylocations. Es ist unglaublich ruhig, die Studierenden müssen selbst etwas auf die Beine stellen und zur Belebung des Ortes beitragen.“

Dieses Anliegen hat Brigitte Hartwig in die Lehre integriert. Die Kommunikation innerhalb einer Stadtgesellschaft zu aktivieren, könne mit banalen Dingen beginnen, sagt sie. „Schon eine Bank und ein Plakat vor einem Ladengeschäft, dort wo sich Leute zusammenfinden, können Impulse geben. Wir probieren das in Dessau aus, wir schaffen Anlässe, damit die Menschen miteinander kommunizieren.“

Aber es werden auch komplexe Projekte initiiert: Studierende wollen ein leerstehendes Café wiederbeleben. Sie haben einen Aktionstag gestaltet, sich mit den Eigentümern getroffen, Leute eingeladen, Feedback gesammelt. Kontakte zur Wirtschaftsförderung wurden aufgenommen, ein Businessplan soll geschrieben werden. In einem anderen Projekt haben Studierende ein ehemaliges Getränkelager in eine Siebdruckwerkstatt umgewandelt, die sie in Eigenregie führen.

So schlüpfen Studierende in die Rolle von Gründerinnen und Gründern, agieren in echten Lebenswelten. „Uns ist es wichtig, dass sie Verantwortung für ihr Studium übernehmen, initiativ und leidenschaftlich sind. Sie sollen die Einstellung entwickeln, Kapitän auf dem Schiff ihres Lebens zu sein“, erklärt Brigitte Hartwig.

Die vielen Ideen entstehen in einer kreativen Lernatmosphäre. „Wir haben uns von der Idee verabschiedet, dass der Lehrende vorn steht“, berichtet die Professorin, die Studierende ab dem dritten Semester unterrichtet. „Die Moderation wechselt, jeder Studierende ist mal dran. Seitdem wir das so machen, fühlt sich das Studium anders an. Die Studierenden sind sehr reflektiert und respektvoll, sie geben sich wertschätzend-liebevoll Feedback.“ 

„Wir haben viele Möglichkeiten, uns zu verwirklichen“, bestätigt Tom Gernegroß, der sich in Arbeitsgruppen engagiert, um das Leben und Lernen auf dem Dessauer Campus mitzugestalten. Angefangen hat es mit dem Studierendenraum: Aus einem Projekt heraus bildete sich ein offener Workspace, verwaltet von Studierenden, ein Arbeits- und Pausenraum, eine Anlaufstelle für alle, die mal reden wollen oder Hilfe suchen.

Das Studium der Zukunft mitgestalten

Tom Gernegroß stammt aus Dresden. Er hat sich nach der Berufsausbildung zum Grafik- und Mediendesigner für das Studium in Dessau entschieden. Der 23-Jährige schätzt die Ruhe, die familiäre Atmosphäre und das sensible soziale Miteinander auf dem Campus. Mit Beginn des Studiums war klar, hier will er mitgestalten.

Eine ganz besondere Möglichkeit dazu gibt eine Arbeitsgruppe, in der Lehrbeauftragte und Studierende gemeinsam Konzepte und Strategien entwickeln: „Wir diskutieren, was das Designstudium in Zukunft leisten soll. Unser Ziel ist es, die Lehre so zu gestalten, dass sie auf die Bedürfnisse der Studierenden zugeschnitten ist“, erklärt Gernegroß.

Die entwickelten Ideen werden im laufenden Studienbetrieb getestet. „Wir haben zum Beispiel ausprobiert, was es bringt, wenn Studierende verschiedener Semester in einem Projekt zusammenarbeiten“, erzählt er. „Es hat sehr gut funktioniert, wir lernen von- und miteinander.“ Die Experimente sind Inspiration, wie das Studium neu gestaltet werden kann. Geht es „nur“ um innovative Produkte und Visualisierung oder geht es darum, sich mit Problemen auf der Welt, mit sozialen Strukturen auseinanderzusetzen?

Problematisch findet Tom Gernegroß, dass in den vergangenen drei Semestern aufgrund der Corona-Situation wenig Studium in Präsenz möglich war. „Wer in dieser Zeit mit dem Studium begonnen hat, kennt Hochschule, Stadt und Campus nicht und kann sich kaum damit identifizieren“, sagt er. „Wir wurden als Neulinge sofort integriert, sind in das selbständige Engagement und in Arbeitsgruppen hineingewachsen.“ 

Auch das Praktische blieb zum Teil auf der Strecke, ergänzt Professor Nicolai Neubert: „Wir brauchen Teamarbeit, wir verwenden hochwertige Materialien und arbeiten mit Technik, auf die die Studierenden zu Hause nicht zugreifen können." In seinem Spezialgebiet, dem virtuellen Modellbau, wird an leistungsfähigen Computern designt, visualisiert und simuliert. Im 3D-Druck werden Modelle in Kleinstauflagen in verschiedenen Maßstäben und in hoher Qualität erzeugt. Stattdessen wurde nun zu Hause behelfsmäßig mit dem, was der Haushalt bot, gebastelt. „Ich hänge ein Jahr dran“, das ist die Konsequenz, die Tom Gernegroß daraus zieht, dass vieles in den vergangenen drei Semestern nicht möglich war.

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