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Aus dem Kleinen große Potenziale für die Zukunft schöpfen

„Wir wurden anfangs belächelt, das hat keine Zukunft, hieß es“, erinnert sich Wolfram Meusel, Professor für Bioverfahrenstechnik, an die Anfänge der Biotechnologieausbildung in Köthen noch lange vor der Gründung der Hochschule Anhalt. Ein Vorläufer, die Technische Biologie, wurde bereits seit 1959 am Standort gelehrt. „1978 hatte der damalige Rektor der Ingenieurhochschule die Idee, ein Biotechnologiestudium aufzubauen. Wir waren die Ersten mit diesem Studiengang“, berichtet der 68-Jährige. Bestimmte Stoffe für die chemische Industrie biologisch herzustellen und dabei auf den Kompetenzen der Hochschule in den Bereichen Verfahrenstechnik und Chemie aufzubauen, war die Idee.

Auf Grundlage dieser Erfahrung konnte der Studiengang Biotechnologie vor 30 Jahren unter dem Dach der Hochschule Anhalt neu starten. Zunächst war er technikdominiert, bis sich im Jahr 2000 mit Professorin Carola Griehl das Spektrum um die molekulare Biotechnologie erweiterte. Die erste Frau im Kollegium kämpfte für eine naturwissenschaftliche Neuausrichtung der Biotechnologie in Köthen.

Vom Sparten-Streit zur Symbiose

„Es gab damals hitzige Diskussionen“, so Meusel, einige aus dem Kollegium hätten ihren Vorstoß als Angriff auf die Ingenieurtradition verstanden. Er war damals Dekan und hat den Prozess moderierend begleitet: „Es hat viel Kraft und Nerven gekostet, aber es hat sich gelohnt, denn wir haben die Balance von Technik und Naturwissenschaften hinbekommen“, erinnert sich der Ruheständler, der allerdings weiterhin Vorlesungen hält. „Wir haben voneinander gelernt und wir brauchen beides, wenn es um die Entwicklung neuer Verfahren und Produkte geht.“ Schließlich wurde der naturwissenschaftliche Part personell verstärkt, ohne die Verfahrenstechnik zu vernachlässigen. 2003 etwa kam Hans-Jürgen Mägert als Professor für Molekulare Biotechnologie nach Köthen. Ihm ist es zu verdanken, dass der internationale englischsprachige Masterstudiengang „Molecular Biotechnology“ angeboten werden kann.

Seit 2019 wird das Ineinandergreifen von Naturwissenschaften und Technik mit einem gemeinsamen Grundstudium im Fachbereich Angewandte Biowissenschaften und Prozesstechnik unterstrichen. Erst im zweiten Jahr treffen die Studierenden ihre Entscheidung für Biotechnologie, Lebensmitteltechnik, Pharmatechnik oder Verfahrenstechnik.

Christian Kleinert hat sich nach dem Abitur 2008 direkt für das Studium der Biotechnologie entschieden. Kleinert kam aus einem Dorf in der Nähe von Leipzig an die Hochschule Anhalt und für ihn war es die ideale Wahl, denn er hat sich schon immer sowohl für Biologie als auch für Technik interessiert. Für ein Auslandssemester zog es ihn in die große weite Welt nach in Australien, wo er über einen Hoffnungsträger der nachwachsenden Rohstoffe forschen konnte – Mikroalgen. An der Murdoch-Universität in Perth konnte Christian Kleinert für seine Bachelorarbeit beim Algen-Experten Professor Michael Borowitzka forschen und so vom internationalen Netzwerk der Köthener Algen-Spezialistin Professorin Carola Griehl profitieren.

Aktuell steht Kleinert als wissenschaftlicher Mitarbeiter oft im Labor an der „Algentankstelle“. Das ist eine mehr populäre als wissenschaftliche Bezeichnung, findet der 31-Jährige, der das Thema für seine Promotion bearbeitet: „Milking“ oder „In-situ-Extraktion“ nennt sich das Verfahren, in dem ausgewählte Mikroalgen kultiviert und die von ihnen erzeugten langkettigen Kohlenwasserstoffe mit Hilfe chemischer Lösungsmittel abgeschieden werden. Dafür eine geeignete Apparatur zu entwickeln, ist bereits sein Masterarbeitsthema gewesen. Die Idee dazu lieferte der Sohn von Carola Griehl, der sich im Rahmen von „Jugend forscht“ mit diesem Problem befasste. Jenes Ergebnis der Teamarbeit mit Professorin Carola Griehl und Christoph Griehl hat die Hochschule patentieren lassen. Angesichts endlicher Erdölvorkommen könnte das Algenprodukt ein wichtiger Rohstoff für die Petrolchemie der Zukunft sein.

Rohstoffe für Knabberspaß und Wirkstoffe für die Krebstherapie

„Mikroalgen sind ein Schatz“, sagt Carola Griehl: In mehr als 70 Prozent aller Lebensmittel stecken Bestandteile, die aus Mikroalgen gewonnen werden. Algen liefern darüber hinaus Substanzen für die Herstellung von Farben, Kosmetika und Pharmaka. Einige sind Vitaminbomben, andere sind reich an Proteinen oder an speziellen Omega-3-Fettsäuren, die sonst nur in Fischöl vorkommen. Wieder andere produzieren Siliziumdioxid, einen wichtigen Rohstoff für die Nanotechnologie. Mit Algenkeks, -snack, blauem Bier und sogar Pumps aus Algen zeigt Carola Griehl bei Vorträgen einen kleinen Ausschnitt aus dem Meer schier unerschöpflicher Möglichkeiten.

Mit bestens ausgestatteten Laboren und Know-how bietet die Hochschule die perfekte Analytik, wirkt aber ebenso bei der Entwicklung von Bioreaktoren mit. Im Biosolarzentrum an der Hochschule Anhalt, 2013 in Kooperation mit der Firma Großmann Ingenieur Consult GmbH (GICON) gegründet, wird ganzjährig Algenbiomasse in neuartigen Tannenbaum-Photobioreaktoren produziert.

Im Verbund mit dem Max-Planck-Institut in Magdeburg und dem Fraunhofer-Zentrum für Chemisch-Biotechnologische Prozesse CBP in Leuna arbeitet die Hochschule Anhalt derzeit an der Entwicklung eines industriellen Verfahrens zur Produktion von Biofarbstoffen und Proteinen aus Mikroalgen. Sie sind zunehmend begehrt in der Lebensmittel-, Kosmetik- und Pharmaindustrie. In einem Forschungsprojekt wird unter anderem untersucht, unter welchen Bedingungen bestimmte Algen in der Behandlung von altersbedingten Erkrankungen oder in der Prävention zur Vermeidung von Übergewicht eingesetzt werden können.

Zusammen mit dem Fraunhofer Institut für Zelltherapie und Immunologie (IZI) hat die Hochschule dazu im Mai 2021 das Zentrum für Naturstoff-basierte Therapeutika gegründet, um fortan die Erfahrungen in der Algen-biotechnologie an der Hochschule mit der Expertise in der Wirkstoffentwicklung des Fraunhofer IZI zu bündeln und zu institutionalisieren. Im Fokus stehen zukünftig insbesondere Algeninhaltsstoffe und deren Wirksamkeit bei bakteriellen Infektionen, Entzündungen, Tumoren oder Demenz.

Für ihre Forschungen haben die Köthener Algenspezialistinnen und -spezialisten inzwischen einen umfangreichen Bestand von mehr als 300 Algenstämmen aufgebaut. Sie erweitern sie nicht nur bei Exkursionen. Auch bei jeder Urlaubsreise sind ein paar Röhrchen im Gepäck, damit ihnen keine Rarität entgeht.

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