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Ein Studium für kühle Rechner, die kreativ und kommunikativ sind

Noch ist das Gebäude des Fachbereichs an der Lohmannstraße in Köthen eine Baustelle. Der große Hörsaal ist frisch saniert und Professor Alexander Carôt ist aus dem Ausweichquartier zurück in sein Büro gezogen. Kisten mit neuer Technik für 3D-Sound warten darauf, ausgepackt zu werden. Als Studienfachberater des Studiengangs Angewandte Informatik – Digitale Medien und Spieleentwicklung verbindet der 47-Jährige seine Leidenschaften fürs Programmieren und für die Musik. „Ich wollte weder nur ein Künstler noch ein Nerd sein“, sagt er. Bass, Kontrabass und E-Bass waren und sind seine Begleiter.

„Als ich 2010 an die Hochschule Anhalt zum Professor berufen wurde, nahmen mich die Studierenden als Exoten wahr. Ein Musiker – daran mussten sich einige erst gewöhnen“, schmunzelt Carôt. Er hatte nach der Ausbildung zum Radio- und Fernsehtechniker in Lübeck Medieninformatik studiert, bei Auslandsstudienaufenthalten über den räumlichen und fachlichen Tellerrand geschaut und 2009 an der Universität in Lübeck promoviert. „Es ist gerade beim Studiengang Informatik wichtig, zu rechnen und viel zu üben“, weiß der Professor. „Aber auch soziales Leben und Interesse für andere Themen gehören dazu, schließlich ist das Programmieren kein Selbstzweck.“

Vielleicht ist es das Klischee vom Nerd, das junge Frauen davon abhält, Informatik zu studieren, meint Volkmar Richter, Professor im Ruhestand und ehemaliger Dekan des Fachbereichs in den Anfangsjahren der Hochschule Anhalt. Nach wie vor sind Frauen in der Unterzahl. Vor dem Studium bereits fit im Programmieren zu sein, sei nicht die Voraussetzung, um erfolgreich zum Abschluss zu kommen. „Ich hatte junge Frauen im Studiengang, die ohne Vorkenntnisse hierherkamen und am Ende die besten Ergebnisse hatten. Was die Studierenden brauchen, sind Interesse, Fleiß und Abstraktionsvermögen.“

Nerd zu sein, das sei in ihrem Studiengang eher hinderlich, erklärt auch Professorin Korinna Bade, Studienfachberaterin für den Masterstudiengang Data Science. „In allen Bereichen gibt es automatische Systeme, die ständig und in großen Mengen Daten produzieren. Deshalb ist es hilfreich, Einblicke in andere Fachrichtungen und Interessen für Themen auch abseits von Zahlen und Formeln zu haben“, erklärt die 41-Jährige.

Die Studierenden sind daher nicht nur Informatiker und Wirtschaftsinformatiker, sondern kommen beispielsweise aus der Betriebswirtschafts- oder Volkswirtschaftslehre, aus den Erziehungs- oder Sprachwissenschaften, aus der Wirtschaftsmathematik oder aus den Geowissenschaften. Dass dies Sinn ergibt, erklärt Bade am Beispiel Facility Management: Intelligente Gebäude werden mit Sensoren für Raumtemperaturen und Luftfeuchtigkeit oder zur Anzahl der Personen, die Räume betreten oder verlassen, ausgestattet. Um die erzeugten Daten zu analysieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, braucht es intelligente Verfahren.

Praktisch und interdisziplinär

Bades Spezialgebiet ist das Maschinelle Lernen: „Das hat mich schon während des Studiums fasziniert“, sagt sie. An der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg hat sie Informatik studiert und dort promoviert. „Maschinelles Lernen brauchen wir immer dann, wenn es zu kompliziert wird, dem Computer jeden Schritt vorzugeben, beispielsweise wenn es um das Lesen von Handschriften oder das autonome Fahren geht.“ Um mehr junge Frauen zu ermutigen, Informatik zu studieren, engagiert sich die 41-Jährige außerdem in Projekten zur MINT-Interessenförderung.

Die interdisziplinäre Ausrichtung des Studiengangs wird auch in den Studierendenprojekten sichtbar. In einem aktuellen Projekt untersucht ein Team Daten des Fachbereichs Landwirtschaft, Ökotrophologie und Landschaftsentwicklung zur Beweidung einer naturbelassenen Fläche mit Wildpferden. Wo halten sich die Pferde auf? Welches Muster ist erkennbar? „Wir haben den Anspruch, dass unsere Absolventen die immer komplexer werdenden Algorithmen verstehen, dass sie wissen, wie sie diese Methoden einsetzen, was dabei passiert und wie die Ergebnisse zu interpretieren sind“, erklärt Korinna Bade.

Zu sehen, wie sie mit ihrer Arbeit verschiedene Lebens- und Wirkungsbereiche besser machen können, spornt die Studierenden an. Sie müssen sich auf unterschiedlichste Themen und Gegebenheiten einlassen, kreative Lösungen suchen und fachübergreifend kommunizieren. Zahlreiche Kooperationen mit Unternehmen bieten dazu Gelegenheiten. „Unsere Studierenden haben beispielsweise Software benutzerfreundlicher gestaltet oder widerstandsfähiger gemacht. Für einen Stromversorger wurde Software für Energieabrechnungen weiterentwickelt und in einem Projekt wurde Gestensteuerung für Computer in kontaminierten Bereichen von Krankenhäusern entwickelt, damit Maus und Tastatur nicht angefasst werden müssen“, führt Volkmar Richter einige Beispiele aus der Vergangenheit an.

Alexander Carôt findet seine Forschungsthemen vorzugsweise in der Musik. Die neuen Lautsprecher zum Beispiel können die von einem kleinen Orchester erzeugten Klänge mit entsprechender Software in besonderer Weise erfahrbar machen. Jeder Lautsprecher steht für ein Instrument. Je nach Ausrichtung wird der Hörer Teil des Orchesters oder des Publikums.

Von Carôts Wissen um die technischen Bedürfnisse von Musikern profitieren Alleinunterhalter, Bands und Orchester weltweit. So konnte der Chor des Gewandhauses Leipzig nach langer Corona-Zwangspause dank seiner „Soundjack“-Software endlich wieder proben – jedes Mitglied bei sich zu Hause und doch alle gemeinsam. „Wegen der Zeitverzögerung bekommt man das mit normalen Videokonferenzen nicht hin“, erklärt der Professor, „große Datenmengen müssen in Echtzeit übermittelt werden.“ Mit Studierenden und nach Anregungen der Künstlerinnen und Künstler entwickelt er die freie Software ständig weiter.

Teamgeist und familiäre Atmosphäre

Das Zusammenwirken kreativer Köpfe und den großen Teamgeist lobt auch Volkmar Richter: „Die Studierenden optimal auszubilden, wurde bei uns immer schon als gemeinsame Aufgabe gesehen, wir ziehen alle an einem Strang“, sagt der 75-Jährige. Das liebenswürdige, familiäre Klima lässt Volkmar Richter immer wieder gern aus dem Ruhestand für die ein oder andere Vorlesung nach Köthen zurückkommen.

Mit dem Fachbereich Informatik und Sprachen ist er eng verbunden, schließlich hat er das Wachsen und Werden von Anfang an miterlebt und die Entwicklung mitgestaltet. Ursprünglich war der aus Sachsen stammende Professor aus der Landwirtschaft zur Informatik gekommen. Seine Berufsausbildung mit Abitur hat in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) in der Schweinezucht absolviert und anschließend Mathematik studiert. Er hat in seinem Dorf das Rechenzentrum für die Tierzucht mit aufgebaut, später die Projektierung für die Rinderzucht geleitet. „Weil ich kein Genosse war, konnte ich nicht Abteilungsleiter sein, also habe ich mich nach etwas Neuem umgesehen“, sagt er. So ging er 1988 an den Hochschulstandort Köthen, erlebte dort die turbulente Zeit der politischen Wende mit Abwicklung der alten und Gründung der neuen Hochschule.

Viele Fachkräfte waren in den Westen gegangen, es fehlte an Informatikern für die Ingenieurausbildung. „Wir saßen am Kamin und hatten die Idee: Dann bilden wir eben selbst welche aus!“, erzählt Volkmar Richter. „Wir haben ein Konzept entwickelt, einfach losgelegt und plötzlich waren 30 Studierende da.“ Aus dem Nebenfach für Ingenieure wurde ein eigenständiger Studiengang.

Die Umstellung zu einem praxisorientierten Studiengang führte dazu, dass die Immatrikulationszahlen nach oben gingen. „Ganz verrückt wurde es, als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der CeBIT 2000 sagte, dass die Wirtschaft dringend Informatiker brauche. Im Semester danach haben sich die Studierenden bei uns gestapelt“, erzählt Volkmar Richter.

Dieser Boom war vorbei, als Alexander Carôt vor elf Jahren nach Köthen kam. Die Zahl der Informatikstudierenden konnte man an wenigen Händen abzählen und diese Wenigen waren vorwiegend Nerds – die Zeit war wieder reif für Neues. „Mit einem kleinen Team haben wir den Fachbereich reformiert und neue Studiengänge ins Leben gerufen“, sagt Carôt. „Modern und interdisziplinär, für kreative und kommunikative Menschen.“ Neben digitalen Medien wurde zunächst die Spieleentwicklung zu einem Immatrikulationsmagneten und später dann das Thema Data Science. Beim jährlichen Global Game Jam und beim Data Mining Cup sind immer wieder diverse Studierende aus Köthen ambitioniert mit dabei.

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