Projekt

Christian Hartwig - Denkmalpflege Masterarbeit

Sachzeugnisse der deutschen Teilung in Sachsen-Anhalt. Aktuelle Probleme und Tendenzen der Denkmalpflege an zwei Beispielen im Landkreis Altmark-Salzwedel

„Der Mensch ist mit seiner historischen Zeit identisch, als Individuum in einer anderen, früheren oder späteren, nicht vorstellbar; daher ist es nur Spiel, wenn einer sagt, er hätte lieber im 19. Jahrhundert gelebt als im späten 20. Eine Trennung zwischen den Persönlichkeiten und ihrer Zeit gehört in das Gebiet der Pathologie oder, schlichter, der Biologie: Das ganz Junge weiß von der Epoche seiner Schicksale noch nichts, der ganz Alte gibt auf, versteht, wie der Ausdruck ist, die Welt nicht mehr. Jene in der Mitte des Lebens müssen sie verstehen, denn es ist ihre Welt und es gibt für sie keine andere.“ (Mann, Golo: Schlußbetrachtung aus der Sicht des Jahres 1986. In: Heuß, Alfred / Mann, Golo / Nitschke, August (Hg.): Die Welt von heute. Sonderausgabe in 10 Bd. als Nachdruck der Ausgabe 1960 - 1964. Frankfurt (Main), Berlin: 1991 (Propyläen Weltgeschichte, 10), S. 609-634.)

Mit diesen Zeilen blickt Golo Mann als Historiker und Publizist im Jahr 1986 auf die Wechselwirkungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigen. Er kann dabei noch nicht ahnen, welche weitreichenden Veränderungen sich in Deutschland und der gesamten Welt einige Jahre später ereignen werden. Standen sich viele Jahrzehnte entgegengesetzte Weltsysteme an einer Grenze mitten durch unser Land gegenüber, brach dieses Konstrukt innerhalb kürzester Zeit in sich zusammen und veränderte alles - die Landschaft, die Menschen, die Ideen. Auch wenn Golo Mann selbst seine Bedenken zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten hegte: „Keine Freude an der deutschen Einheit. Sie werden wieder Unsinn machen, wenngleich ich es nicht erlebe.“ (Golo Mann in seinem Tagebuch am 21. Juni 1990. In: Bitterli 2005, 554) - es war eine neue Epoche angebrochen.

 

Die Zeit der deutschen Teilung stellt heute ein abgeschlossenes Kapitel innerhalb der Geschichte der Bundesrepublik dar. Über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung existiert in Sachsen-Anhalt eine Vielzahl von Relikten, die sachlich und räumlich Bezug auf das Geschehene nehmen - ausgehend vom ehemaligen Grenzverlauf bis weit in das Landesinnere hinein. Nicht zuletzt stellt das Ausrichten der Anlagen gegen die eigene Bevölkerung ein Alleinstellungsmerkmal zu anderen Grenzen dar und unterstreicht den vorhandenen Zeugniswert der Baulichkeiten.

 

Diese Masterarbeit zeigt, wie das „System Grenze“ zwischen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik die nationalen und internationalen politischen Ereignisse in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 nicht nur als lineare Struktur, sondern als raumwirksame Maßnahme bis weit in das Landesinnere Ostdeutschlands abbildete und damit eine militärisch geprägte Kulturlandschaft schuf. Die in Sachsen-Anhalt auffindbaren Sachzeugnisse sind nach wie vor im Stande, diese Zeit auch in der Gegenwart erfahrbar zu machen. Deshalb wird dem früheren grenznahen Gebiet, das nun wieder Binnenregion ist, in den folgenden Ausführungen die Bedeutung einer historischen Kulturlandschaft beigemessen, die es gilt, zu interpretieren, um sie verstehen zu können - sind doch die sprechenden Relikte nur noch fragmentarisch in ihr verteilt. Die Arbeit lenkt außerdem den Blick auf die Auswirkungen des industriellen Bauens in der DDR für die Entwicklung der Grenzsicherung, denn auch dieser architekturgeschichtliche Aspekt kann im Lesen der Spuren deutlich werden.

Nach Alexandra Klei entfalten sich die Bedeutung und die Wirkung materieller Erinnerungsträger in drei aufeinander folgenden Schritten: zuerst muss die Grundlage, die zur Herstellung des Sachzeugnisses führte, betrachtet werden; als nächstes ist das entstandene Produkt in seiner formalen Wirkung und inhaltlichen Aussage zu bewerten und zum Schluss erfolgt die Rezeption und Deutung durch eine individuelle oder gruppenbezogene Aneignung.3 Die Arbeit folgt bei der Annäherung an das Thema diesen Grundsätzen, um geeignete Lösungsansätze eines adäquaten, denkmalpflegerischen Umganges mit den Sachzeugnissen zu ermitteln.

Über eine theoretische Annäherung an den Begriff der Grenze und Erläuterungen zur Entstehung einer militärisch geprägten Kulturlandschaft erfolgt ein Überblick über auffindbare Sachzeugnisse der deutschen Teilung in Sachsen-Anhalt. Dazu hat sich der Autor in die beschriebenen Regionen begeben, um sich ein persönliches Bild des Artefaktbestandes zu machen. Anhand der anschließenden, detaillierten Untersuchung zweier Bearbeitungsgebiete, gelegen im heutigen Altmarkkreis-Salzwedel, soll verdeutlicht werden, welche Probleme die gegenwärtige denkmalpflegerische Diskussion beinhaltet, insbesondere unter den Gesichtspunkten der Bewahrung von Kulturlandschaft und dem Umgang mit typisierten Bauprodukten. Hierzu bilden detaillierte historische Diskurse im Bereich der früheren Grenzorte Jahrstedt, Böckwitz und Zicherie sowie Seeben, nordwestlich von Salzwedel die Grundlage. Eine daraus abgeleitete Zielstellung in fünf aufeinander folgenden Schritten kann nur kollaborativ erfolgen und sollte denkmalpflegerische, archäologische und künstlerische Aspekte gleichermaßen einbinden.

 

Die Ausführung lenkt den Blick weg vom einzelnen baulichen Objekt hin zum Gefüge noch vorhandener Relikte als Netz in einer Landschaft. Sie öffnet den Raum von der zur Linie verdichteten Wahrnehmung der innerdeutschen Grenze zu einer vieldimensionalen Zone ehemals wirkender, autoritär-restriktiver Einflüsse, die Fragmente in der Gegenwart hinterlassen haben, deren Interpretation und Erklärung es heute aber bedarf.

Im aktuellen Forschungsstand sei auf die Inventarisierungsbemühungen der Familie Erhard verwiesen, die mit ihrer Vor-Ort-Arbeit das breite Spektrum an Sachzeugnissen der ehemaligen Grenzanlagen in Thüringen erfasst und steckbriefartig beschreibt; auf Axel Klausmeier, der den Begriff „militärisch geprägte Kulturlandschaft“ im Zusammenhang mit Berliner Kasernenstandorten nutzt und auf die zunehmende Zahl an Publikationen, die den Grenzraum als kulturwissenschaftlichen Forschungsgegenstand und künstlerischen Interventionsraum verstehen.