Prof. Dr. Jens Hartmann

Ein Kommentar:

Zur Rolle von sozialen Medien und Leitmedien - brachiale Meinungsvielfalt oder Einhelligkeit der öffentlichen Meinung

Jens Hartmann (Hochschule Anhalt) 20.10.2022

Zwei Bücher sind im September 2022 erschienen, die sich mit Medien und Öffentlichkeit beschäftigen. Das Thema ist seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine nochmals bzw. wieder von besonderer Bedeutung. Die Autoren beider Bücher sind anerkannte Wissenschaftler und Publizisten, die Inhalte zeigen die Auseinandersetzung mit der Vielfalt der sozialen Medien und den mächtigen Leitmedien in den dunklen Zeiten der Konflikte, Krisen und Verschiebungen. Es geht darum, wie und wer uns von diesen Zeiten in Wahrheit und Distanz informieren sollte?

Harald Welzer und Richard David Precht beklagen in ihrem Buch „Die vierte Gewalt. Wie Mehrheits-meinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ (Fischer-Verlag) die Meinungsfreiheit in Deutschland sei eingeschränkt. In einem Gespräch mit Die Zeit [1] äußern sie Unmut über die große Einhelligkeit der veröffentlichten Meinung und der Einfluss der sogenannten Direktmedien (soziale Netzwerke) auf den seriösen Journalismus. Der Nachweis erfolgte an den drei großen Krisen in den letzten 7 Jahren: Flüchtlingskrise, Corona-Pandemie und den Überfall Russlands auf einen souveränen europäischen Nachbar. Zu gerade diesen letzten Konflikt äußerten sich u.a. beide Autoren in einen offenen Brief, man solle die europäischen Waffenlieferungen an die Ukraine stoppen und zum Verhandlungstisch drängen, um eine friedliche Lösung herbeizuführen. Der ihnen so entgegen kommende Meinungs-sturm muss wohl so stark, moralisierend und persönlich angreifend gewesen sein, dass sich die Autoren zum Gegenschlag entschieden: „ein Grund der Einhelligkeit wäre der Cursor-Journalismus, nämlich immer auf der richtigen Seite stehen zu wollen.“ Und: „als begründungspflichtig gelten die Abweichler, nicht der medial behauptete Mainstream.“ Auch wenn ein direktes Motiv bei beiden erkennbar ist, ist ihre These, unabhängig vom Thema Krieg und Waffenlieferungen, natürlich zu diskutieren. Denn das, was diesen prominenten Publizisten derzeit widerfährt, ist kein Einzelfall in Behörden, Unternehmen, Unis oder in privaten Kreisen. Wichtig wäre hier die Besinnung auf einen unaufgeregten Diskurs, in dem allen Seiten zugestanden wird, die Meinung des anderen ernst zu nehmen und auch dessen moralischen persönlichen Ansatz. Irgendwie klingt das nach dem berühmten deutschen Philosophen Jürgen Habermas. Seine Diskursethik [2] basierte ja auf „Regeln auf prozeduraler Ebene der Verständigung […] dass jeder Sprecher nur behaupten darf, was er auch wirklich glaubt, oder etwa, dass wenn jemand eine Norm angreift, er dafür einen Grund nennen muss. Schließlich, was die argumentative Rede betrifft, die Regeln, dass jeder Sprach- und Handlungsfähige am Diskurs teilnehmen darf, dass jeder jede Behauptung problematisieren darf, dass jeder jede Behauptung in den Diskurs einführen darf, dass jeder seine Einstellungen und Bedürfnisse äußern darf [3].

Und jener Habermas, inzwischen 93 jährig, meldete sich nun mit seinem jüngsten Buch „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ (Suhrkamp) zur Debatte. Er beklagt den neuen Strukturwandel auf digitalen Plattformen wie z.B. Twitter, wo ungefiltert und in selbstständiger Autorenschaft Informationen und Meinungen in Echtzeit ausgetauscht werden, die ganz neue Ausmaße der Kommunikation und Verbreitung einnehmen. „Ohne Türsteher kann nun jeder jederzeit dem Diskurs beitreten, ohne jede redaktionelle Vormundschaft“ [4]. Für Habermas, den Diskursverfechter, nun doch eine Unheimlichkeit, weil Polarisierung, Zersplitterung und Erodierung der demokratischen Öffentlichkeit droht. Jene, von Welzer & Precht gescholtenen, Leitmedien sollten den Diskurs wieder führen und sich nicht das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Diese
Hand gehöre den gelernten Redakteuren, Lektoren und den Damen und Herren der Verlage. Der Jung-Philosoph Peter Neumann fasst noch einen weiteren wichtigen Aspekt im Werk seines Kollegen Habermas auf: „Je fein ziselierter und individueller sich eine Gesellschaft gibt, desto schwerer wird es, über den mehr oder minder berechtigten Selbstinteresse das Gemeinwohl nicht aus den Augen zu verlieren.“

Die Frage wäre nun, wie sich Meinungsvielfalt, Gemeinwohl und die kritisierte Gleichschaltung von Medien verträgt, wobei wir wieder bei der Kritik von Welzer und Precht wären: Gehört nicht zum Gemeinwohl die Vielfalt der Meinungen? Und wie kommen wir je bei so viel Diversität und „gesinnungsethischer Entfesselung“ (Precht in [1]) auf das eine Ziel, nach dem politisch gehandelt werden sollte, in einer Krise auch gern schnell? Oder sollten Leitmedien, zumindest angesichts der Entscheidung über Leben und Tod, doch einen „Konsens der Vernunft“ als Mehrheitsmeinung im Diskurs vorbereiten? Dieser Konsens sollte jedoch niemals festgeschrieben sein und abhängig der Problematik entstehen oder vergehen. So sind Krisen wie die Flüchtlingsaufnahme in Deutschland 2015 kaum zu vergleichen mit dem Krieg in der Ukraine 2022.

Die Komplexität und Verstrickung des Themas Meinungsbildung wird allein durch die beiden neuen Bücherbeiträge deutlich, ein Fahrwasser in den Zeiten von Konflikten wie Krieg und Umweltzerstörung ist nicht erkennbar. Und es scheint, dass wir in unserer westlichen Demokratie trotz der drohenden Gefahren weit weg diskutieren vom eigentlichen Geschehen aus rasenden Unglück, Leid und Tod auf dieser Welt.

[1] A. Cammann, M. Machowecz; Sind Journalisten Manipulateure? Eine Konfrontation, Die Zeit 39 (2022) 10.
[2] Jürgen Habermas, Diskursethik, Suhrkamp (2009)

[3] J. Czogalla, Kernaussagen über Jürgen Habermas Diskursethik philosophisch-ethische-rezensionen.de/rezension/Themen/Habermas1.html (2010).


[4] P. Neumann, Lernt schnell besser schreiben, Die Zeit 39 (2022) 50.
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Wenige Ausführungen zum Optimismus in unserer Zeit

Heike Westermann, Jens Hartmann (12.06.2022)

Optimismus ist das Streben nach einer optimalen Lösung. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Optimismus eine zukunftsbejahende Lebenseinstellung, sie dient den Handelnden als Motivation und Glücksrichtung. Dabei werden jedoch Probleme häufig ausgeblendet und übersprungen und Grenzen nicht rechtzeitig erkannt.

Optimismus ist und war jedoch notwendig, um Kräfte im Menschen entgegen seinen naturellen Unzulänglichkeiten zu mobilisieren und sich zur Arterhaltung, auch in harten Zeiten, fortzupflanzen [1]. Da sich umgekehrt der Pessimismus eher als lähmend darstellte, eigneten sich die Menschen vor allem das kurzfristige Denken ohne langfristige Folgen an. Zukunft und Nachhaltigkeit wurden oft schon den nachfolgenden Generationen überlassen. Prozesse mit schellen und sichtbaren Erfolgen dagegen wurden bevorzugt.

Aber Optimismus bedeutet keineswegs nur kurzfristiges Hoffen auf ein gutes Leben. Er bein-haltet die harte Position, dass diese (z.B. unsere westliche) Welt, die beste aller möglichen Welten ist [2]. Der heute verbreitete Optimismus der westlichen Welt bezüglich beispielsweise der Globalisierung sollte die gemeinsamen Menschheitsprobleme wie Hunger, Seuchen und Kriege beenden und auch versuchen, den anthropogenen Klimawandel entscheidend einzudämmen. Der Optimismus bezüglich der Digitalisierung sollte uns auf der Welt besser und schneller vernetzen, sollte helfen, weltweit effizienter zu produzieren und effektiver zu heilen.

Jetzt sind wir endgültig an kaum geglaubte Grenzen gestoßen: weltweite Klimakatastrophen, Pandemien, Kriege, drohender Welthunger. Es zeigt sich das zerstörerische Moment der Zivilisation im vollen Ausmaß, die innere Gewalt der Menschheit. „Seit je hat Aufklärung […] das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“[3]. Während vor ca. 30.000 Jahren der Mensch die Natur auch schon für sein Überleben be- und übernutzte, war dies noch kein Problem: Die Dichte des menschlichen Tieres auf der Erde war noch gering und er konnte weiter ziehen. Die Erd-Kompartimente Luft, Wasser und Boden schienen unerschöpflich zu sein. Heute dagegen: „da seine planetaren Grenzen vor ihm liegen, bringt ihn seine evolutionäre Prägung nicht mehr weiter“. [3, 4]

Was hat den Menschen nur diese Furcht eingejagt, die er mit seiner nicht endendwollenden Wachstumskraft als Herr der Welt besiegen möchte? Warum hilft keine Vernunft oder Wissenschaft, dieses Wachstum umzuwandeln in ein stabilisierendes Gleichgewicht aus Bedürfnissen und Verzicht?

(1) Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal des Menschen vom Tier ist sein Wissen um den eigenen Tod. Der eigene Tod, der unaufhaltsam näher rückt, macht den Menschen kurzsichtig und damit zerstörerisch. Es verbleibt nur eine endliche Zeitdauer intensiver Körperlichkeit, um Wünsche abseits seiner Bedürfnisse zu verwirklichen. Die Gefahren, die auf den Menschen lauern, sind in der zivilisierten Welt scheinbar geringer als in seiner Zeit als Jäger und Sammler. Krankheiten, Verletzungen, Hunger und Raubtiere waren damals neben Naturkatastrophen die Hauptursachen für Verzweiflung und Tod. Heute sind diese Faktoren anderen Gefahren und Ängsten gewichen, wie die Furcht vor Klimaveränderungen, Pandemien oder technischen Unfällen verschiedenster Art. Die Risikogesellschaft wurde in den 80er Jahren des 20. Jahrhundert ausgerufen [6]. Diese dabei beschriebenen Risiken sind im Wesentlichen durch die technologischen Entwicklungen der Gesellschaft geprägt und können Menschen aller sozialen Schichten betreffen.

(2) Die körperliche Unzulänglichkeit prägt die Entwicklung des Menschen von Anfang an. Die Anfälligkeit gegenüber Kälte und Hitze, sein nicht ausgeprägtes Jagd- und Fluchtvermögen und sein stetiger Energiebedarf führten den Menschen früh an Grenzen. Wäre da nicht sein außergewöhnliches und entwickelbares Gehirn, mit dem der Mensch immer wieder Lösungen erarbeitete, mit seiner wechselnden Umwelt zurecht zu kommen. Dies bedeutete: der Herr sein über die Natur. Sein Optimismus wächst dabei mit den Schrittfolgen seiner Erfolge. Er erkennt sich schnell als den perfekten „Stellvertreter Gottes“.

(3) Diese Perfektion wird durch die technologische Hochentwicklung unreflektiert weiter vorangetrieben. Anstatt sich für die Bewahrung der Natur, für Stabilität und für ein friedliches Miteinander global einzusetzen, strebt die Menschheit mittels technologischer Höchstleistungen das Göttliche selbst an: die Optimierung des Menschen [5]. Diese, seine eigene Optimierung ist ein Teil dessen, das aus dem Optimismus heraus ein Gipfelpunkt seiner Furchtüberwindung darstellt. Das Herauszögern des Todes, eine Fristverlängerung, um noch intensiver „seinen“ Planeten zugrunde zu richten.

„ Die größten Optimisten freuten sich über die Aussicht eines von vierzehn Milliarden Menschen bevölkerten Erdballs. Beschränkte sich das Leben tatsächlich auf die Befriedigung unserer reproduktiven Bedürfnisse, war die Perspektive durchaus ermutigend: Wir würden in unseren mit WLAN-Anschlüssen ausgestatteten Betonwürfeln kopulieren können und Insekten essen. Doch gestünde man unserem Übergangsdasein auf Erden einen Anteil an Schönheit zu und wäre das Leben ein Spiel in einem Zaubergarten, dann bedeutete das Aussterben der Tiere eine grauenvolle Neuigkeit. Die schlimmste überhaupt. Sie wurde mit Gleichgültigkeit quittiert.“ [7]

[1] D. Benatar; südafrikanischer Philosoph (geb. 1966): er wirft die Frage auf, ob Menschen die wahre Qualität ihres Lebens falsch einschätzen und hat drei psychologische Phänomene angeführt, von denen er glaubt, dass sie dafür verantwortlich sind: Tendenz zum Optimismus, zur Anpassung und zum Vergleich.

[2] J. Olesti, Optimismus/Pessimismus in: Enzyklopädie Philosophie (Herausgeber H. J. Sandkühler) (2021) S. 1879-1885

[3] T. W. Ardono, M. Horkheimer; Dialektik der Aufklärung (1944).

[4] T. Assheuer; Himmel in Flammen, Die Zeit 22 (2022) 55-56.

[5] U. Beck; Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne (1986).

[6] Y. Harari; Homo Deus (2015)

[7] S. Tesson; Der Schneeleopard (2021)

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Die Verstrickung des Menschen am Klimawandel

Heike Westermann und Jens Hartmann (25.08.2021)

MICHAEL ROTHBERG definiert in seinem jüngsten Buch Implicated Subjects die Verstrickung des Menschen bezüglich politischen und gesellschaftlichen Handels als Einbeziehung in Ereignisse, „die auf den ersten Blick jenseits unseres Handlungsrahmens als Individuen zu liegen scheinen“ [1][2]. Nach ROTHBERG sind dies all jene, die in Machtverhältnissen leben, in die sie hineingeboren wurden und zu deren Ungerechtigkeit sie durch tägliches Handeln beitragen und davon profitieren [3]. Diese Auflösung einer persönlichen Verstrickung, das Erkennen und Entgegenschreiten gegen populistische Schnellantworten und die Verantwortung für eine Zukunftsgestaltung, die Fortschritt und Technik nicht kritiklos befürwortet, sind komplexe Anforderungen der nachwachsenden Generation [4]. Kann das aber geschehen?

ROTHBERG geht es in seinem Buch vor allem um Verstrickung und Mittäterschaft bezüglich historischer und aktueller Handlungen des Antisemitismus, des Kolonialismus, des Rassismus, des Sexismus, der Unterdrückung und der Gewalt.

Die verstrickten Subjekte bzw. belastete Individuen [2][3] nehmen dabei in verschiedenen Formen einen Platz zwischen Tätern und Opfern ein. „So tragen sie dazu bei, die Hinterlassenschaft historischer Gewalt zu propagieren und Strukturen der Ungleichheit aufrecht zu halten, unter denen die Gegenwart leidet. Formen dieses Belastetseins- die Verstrickung in historische und aktuelle Ungerechtigkeit- sind komplex, facettenreich und zuweilen widersprüchlich“ [1][2].

Bezugnehmend auf die Theorie von ROTHBERG soll in diesem Text das aktuelle Thema der Zerstörung der Erde und des Klimawandels diskutiert und die Frage gestellt werden: Warum handeln wir Menschen nicht energisch genug, obwohl die Opferzahlen und Schadenskosten Jahr für Jahr zunehmen? Denn der anthropogen verursachte Klimawandel hinterlässt seit vielen Jahren auf der ganzen Welt eine Vielzahl von Opfern aus Katastrophen wie Waldbränden, Stürmen, Starkregen-Ereignisse, Fluten, Dürren und auch Pandemien. Neben diesen sogenannten „Naturgewalten“ können weitere technische Havarien und Unglücke dazu gezählt werden: Schäden an Atomkraftwerken und deren Atommüll-Zwischenlagern, Gebäudeeinstürze, Bergwerksunglücke, Öltanker-Havarien oder Gasexplosionen. Neben den unzähligen Opfern sollten all diejenigen im Fokus stehen, die sowohl die Täter stärken und moralisch in Verantwortung gegenüber den Opfern genommen werden müssten.

Bezüglich der globalen Zerstörung und der Klimakrise gab es eine Täterbenennung in der gesellschaftlichen Diskussion bislang nicht. Die Täter- hier benannt als handelnden Personen aus Wirtschaft und Politik- waren zunächst als Leiter, Planer, Dienstleister und Produzenten willkommen und gewünscht. Im Namen der damaligen gesamtgesellschaftlichen Ansprüche wie Mobilität, Freiheit, Konsum und Luxus schufen sie Wohlstand für alle. Die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ausgegebenen Wünsche und Ziele wurden ohne Nachhaltigkeitsgedanken realisiert, optimiert, erweitert im Sinne einer gigantischen Wachstumsgesellschaft. Bis dahin galt der Fortschritt als ein unaufhaltbarer Prozess des quantitativen und qualitativen Wachstums. Spätestens in den Mitte-70er Jahren jedoch warnte eine Vielzahl von WissenschaftlerInnen und Intellektuelle dringend vor dem Kollaps des Planeten Erde, sollte man so fortfahren wie bisher. Der gemeinnützige Club of Rome setzte sich damals schon für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit ein. Mit dem 1972 veröffentlichten Bericht Die Grenzen des Wachstums erlangte er große weltweite Beachtung. Weitere Warnungen der Wissenschaft und einzelner Politiker folgten jährlich, insbesondere der vor 15 Jahren erschienene beeindruckende Dokumentarfilm Eine unbequeme Wahrheit (An Inconvenient Truth) von Davis Guggenheim über die globale Erwärmung mit dem ehemaligen US-Vizepräsidenten und Präsidentschaftskandidaten Al Gore. Spätestens in den 2000er Jahren wussten die Handelnden über die Gefahren und Risiken der Ressourcen-verschwendung, der CO2-Emissionen und der Verdrängung von Biodiversität auf unserer Erde. Der Wissenschaftler und Aktivist Andreas Malm bringt die Situation auf den Punkt: „Wir können die Klimakrise nicht mehr verhindern, aber den Schaden minimieren. Je größer der Schaden, desto intensiver wird der Kampf gegen die Krise ausgefochten“ [5].

Man muss ab einem bestimmten Zeitpunkt allen in Verantwortung Handelnden, die bewusst die Fakten und Ratschläge der Wissenschaft und den Schutz der Umwelt und aller Lebewesen ignorierten, um eigene gewinn- oder ruhmbringende bzw. eigennützige Ziele höher einzustufen und zu verfolgen, als Täter des Klimawandels bezeichnen. Insbesondere, wer heute noch ökologische und soziale Folgen seines Handelns nicht bedenkt und nicht alternativ handelt, macht sich moralisch schuldig.

Neben diesem Täter-Typus stehen all diejenigen im Fokus, die sich aus eigenen Interessen und Verstrickungen nicht genügend gegen die heranziehende Katastrophe des Klimawandels gewehrt haben, bzw. dies auch gar nicht möglich machen konnten. „Mit dem Wechsel vom Opfer-Täter-Diskurs hin zu einem Diskurs des belasteten Individuums eröffnen sich Möglichkeiten, über gesellschaftliche und politische Grautöne nachzudenken…“ [1][2]. ROTHBERG benennt verschiedene Formen dieser Grautöne: eine Mittäterschaft (nicht allein als Beihilfe, sondern auch als Verständiger der Zusammenhänge) und das Belastetsein (z.B. als Nutznießer). „Der Nutznießer profitiert sowohl vom historischen Leid anderer wie auch von der Ungleichheit in einer Gegenwart des globalen, neoliberalen Kapitalismus“ [1][2].

Die Belastung bzw. Verstrickung zeigt sich nun auch bei dem Diskurs über Ursachen und Überwindung der Klimakrise in unserer Gesellschaft [3]. Er kann „… dabei helfen, verschiedene historische, theoretische und strukturelle Dilemmata, wie auch Fälle von Unrecht näher zu beleuchten“ [1][2].

Ausgehend vom Täterbeispiel des brasilianischen Präsidenten BOLSONARO zeigt sich eine Folgenkette, in die wir (Europäer) doppelt verstrickt sind und als belastet agieren: Die Abholzung großer Teile des Regenwaldes zerstört global und schnell die ökologischen Gleichgewichte wie z.B. das thermische Gleichgewicht der Erde. Gleichzeitig importieren wir Tierfutter nach Europa, das angebaut wurde auf den abgeholzten Flächen des Regenwald-gebietes. Mit unserem Nutztierkonsum tragen wir selbst zur Erderwärmung bei und sind an den Auswirkungen als Opfer beteiligt. Die Belastung besteht in der Stärkung der Täter (und Mittäter) und in der Generierung von Millionen von Opfern.

Eine typische Verstrickung hinsichtlich einer ökologischen Moderne in Deutschland zeigt sich in der Handlungsweise der bürgerlichen Mittelschicht. Die mehrheitlich links-liberale Bevölkerungsschicht ist gut gebildet und finanziell abgesichert. Viele Menschen aus dieser Schicht leisten sich ökologische Zugeständnisse, gut Bescheid wissend über die kausalen Zusammenhänge: Bildung, Ernährung, Bewegung, Solidarität, Kultur und Diversität werden überall da verkörpert, wo man es sich leisten kann und will. Jedoch die Vorbildwirkung auf die deutsche Gesamtgesellschaft verblasst angesichts eigener (vor)gelebter Konsum- und Besitzansprüche. Aufgrund ihrer Stellung verstricken sich diese Menschen der bürgerlichen Mittelschicht in gesellschaftliche Netzwerke, Hierarchien und wohlwollende Komplizen-schaften gegenüber den Handelnden bzw., wie festgestellt, auch gegenüber den Tätern. Ihre ökologischen Abdrücke sind in Summe gigantisch hoch! Die Folgen des Klimawandels wird diese Schicht hauptsächlich tragen, ohne jedoch aufzubegehren. Damit sind sie ebenfalls belastet mit einem Unrecht, das die ärmeren Schichten der Bevölkerung mit deutlich geringeren ökologischen Abdrücken angesichts höherer Abgaben aufgrund der Anpassung an den Klimawandel zu bewältigen haben. Eine kulturelle Angleichung der beiden Schichten wird immer unmöglicher, die Kluft zwischen arm und auskommend (gut situiert) wird immer größer.

Diese Tatsache führt sogar dazu, dass jedwede Freiheitseinschränkungen von beiden Schichten der Bevölkerung zunehmend abgelehnt werden, einerseits aufgrund der Sorge um den Verlust von mühevoll aufgebauten Lebenswelten, anderseits durch das Festhalten an den letzten, noch erschwinglichen Privilegien. Der eigentliche Nachhaltigkeitsgedanke wird per se bekräftigt, gleichzeitig jedoch auf die nächst jüngere Generation verschoben. Die Belastung selbst wird dabei mechanistisch auf die globale politische Ebene gehoben oder gleich ganz verdrängt.

Diese Verdrängung der Verstrickung nun ist gesellschaftlich genau so problematisch wie eine Verdrängung von Gräueltaten durch ein politisches Regime in dem Land, indem man lebt, arbeitet und Steuern zahlt. Oder eine Verdrängung der unmenschlichen Arbeitsbedingungen in einem Herstellerland, dessen Produkte man in unserem Land preiswert kaufen kann. Oder eine Verdrängung der Qual von Tieren, deren Fleisch man zur eigenen Grillparty billig erwirbt.

Ein mögliches Krisenmanagement bei Umwelt-Katastrophen (z.B. Hochwasser-Fluten) wird durch Verdrängung der Tatsachen bzw. dem Herauszögern aufgrund von Verstrickungen nicht wirklich wirksam, so gesehen bei der Juli-Flut in Nordrhein-Westfalen. Als Resultat mussten zahlreiche Menschen ihr Leben lassen, Existenzen sind tausendfach bedroht.

Zu den Ursachen dieser Verdrängung zählt jedoch auch eine „Verdünnung von Katastrophen auf Normalität“ [6]. Soweit man selbst (noch) nicht von Auswirkungen des Klimawandels betroffen ist (Tiere und Pflanzen werden dabei genauso verdrängend außer Acht gelassen, wie verheerende Waldbrände in südlichen Urlaubsgebieten), will man diese weltweiten Zunahmen von Gefahren nicht wahrhaben.

Möglich wäre sogar auch die intuitive Angst der mittleren Bevölkerungsschicht, seine Freiheiten doch zu verlieren und deswegen genau noch ein letztes Mal das zu tun, was eigentlich längst gesellschaftlich kritisiert und geächtet wird. Es wird zum Beispiel nochmal einen SUV gekauft, bis irgendwann in Zukunft dann auf ein unschickes Batterie-Gefährt mit kleiner Reichweite und nur max. 120 km/h umzusteigen wäre.

Das Problem der Verstrickung gipfelt in politische und wirtschaftliche Botschaften wie: „Wohlstand erhalten durch Klimaschutz“ (Partei Die Grünen) oder „Automobilität durch selbstfahrende Elektroautos für Alle“ (Herbert Dies; Volkswagen AG). Es wird allgemein suggeriert, das Technik und Technologie als Treiber des Klimawandels nun zur innovativen „Heilung des Klimas“ führen würde.

Eine Lösung der Verstrickung dagegen muss durch das Bewusstsein über diese Verstrickung beginnen und als gemeinsame (Eigen)Verantwortung aufgefasst werden, um Strategien der Stabilisierung und des Rückbaus von Ansprüchen und Anpassung der Lebensweise zu entwickeln [5].

Der Begriff der Nachhaltigkeit muss neu definiert werden: die nächsten Generationen sollten eine Erde vorfinden, auf der sie vor allem anders leben werden können als die vorigen Generationen: weniger belastet, weniger materiell orientiert, um damit endlich wieder die ökologischen und soziale Gleichgewichte in Stabilität zu bringen. Nur dies wäre eine Lebensgrundlage für ihre Kinder und Enkel.

Eine Ignorierung der Verstrickung dagegen sorgt langfristig für offene Konflikte, vor allem zwischen beiden Lagern der Verstrickten: Die ihre Verstrickung beenden wollenden Menschen, die eine weitere Verfeuerung fossiler Brennstoffe als eine Form von Gewalt auffassen und sich, notfalls ebenfalls gewaltsam, wehren wollen [5]. Und die weiter so Verstrickten, die den anthropogen verursachten Klimawandel verdrängen oder leugnen bzw. ihre Privilegien unbedingt schützen wollen, ohne den Fortbestand der zukünftigen Generationen zu bedenken.

Es sollte nicht der Tag kommen, an denen Klimaschutz-Demonstrationen mit Polizeischutz gegen radikale Klimawende-Leugner und Populisten begleitet werden müssen, oder Pipelines und Fabriken durch Polizeischutz von radikalen Umweltaktivisten abgeschirmt werden müssten.

[1] Michael Rothberg: The Implicated Subject- Beyond Victims and Perpetrators; Stanford University Press (2019)

[2] Deutsche Arbeits-Übersetzung der Einleitung von Michael Rothberg: The Implicated Subject- Beyond Victims and Perpetrators; durch Marcus Rau; Sprachzentrum Hochschule Anhalt (2021) Der Begriff Imlicated Subject (engl.) wird dort hauptsächlich übersetzt als belastetes Individuum.

[3] Elisabeth von Thadden; Was ist unsere Schuld, Die Zeit 29 (2020) 49. Der Begriff Imlicated Subject (engl.) wird dort hauptsächlich übersetzt als verstricktes Subjekt.

[4] Jens Hartmann; Wegweiser in einer Technikgesellschaft; Nachr. Chem. 68 (2020) 17-19.

[5] Maximilian Probst im Gespräch mit Andreas Malm: Er will Pipelines in die Luft jagen; Die Zeit 27 (2021) 35.

[6] Frank Schätzing: Was, wenn wir einfach die Welt retten? Kiepenhauer&Witsch (2021).

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Eine Frage der Ethik: Die Einhaltung von Normen und moralischen Handlungen in Zeiten der Pandemiebewältigung und Klimakrise

Jens Hartmann (2021)

Die Frage nach allgemeinen moralischen Gesetzmäßigkeiten ist wesentlich für das Wissen-schaftsgebiet der Ethik seit jeher. Da Gesetze allgemein in das Gebiet des Rechts fallen, wird der Begriff der moralischen Gesetzmäßigkeit durch den Begriff der Normen ersetzt, also von den Menschen akzeptierte und anerzogene Handlungen. Das „Vordrängeln“ Einzelner an einer Warteschlange beispielsweise ist die Missachtung einer Regel. Real scheint es normal zu sein, diese Handlung nicht zu begehen und sich geduldig einzureihen. Im digitalen Orbit dagegen ist ein Vordrängeln oder auch ein Beschimpfen ohne Scham nicht selten.

Immanuel Kant setzte mit seinem kategorischen Imperativ einen ersten Rahmen, auch er sprach von allgemeinen Gesetzen im Sinne von Regeln für alle Mitglieder einer Gesellschaft: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“[1].

Ein wichtiger Grund für die Achtung moralischer Handlungen ist nach Laura Valentini „der Respekt für die Handlungsautonomie der Anderen. Im Allgemeinen zeigen wir diese Art von Respekt, wenn wir angemessen auf die frei gewählten Verpflichtungen und Projekte anderer Menschen reagieren, darauf also, wie sie ihre Handlungsautonomie ausüben“. [2]

Diese Handlungsautonomie ist nun jedoch immer öfters bei Verantwortlichen und Führenden zu hinterfragen. Und zwar dann, wenn eine Gesellschafts-Mehrheit den Eindruck hat, das Andere, die im Auftrag dieser Mehrheit handeln sollen und können, genau diese Freiheits-grade missbrauchen bzw. zumindest moralisch grenzwertig handeln. Allgemein scheint es nicht mehr üblich zu sein, die eigene Position dann ethisch zu reflektieren, wenn damit auch das Gemeinwohl Vieler verbunden ist. Sind wir das einfach nicht mehr gewöhnt? Fehlt uns Zeit und nötige Intuition dazu? Oder verhindert ein permanenter Handlungsdruck immer öfter ein bewusstes Schauen in den eigenen moralischen Spiegel?


1. Politik als Systemgestaltung

Gewählte PolitikerInnen genießen i.d.R. das Vertrauen ihrer WählerInnen. Die WählerInnen haben oft nur durch diese Wahl die Möglichkeit einer demokratischen Einflussnahme in die politische Systemgestaltung. Damit geben sie den PolitikerInnen ein Mandat für ihre Interessen und ihre gewollten Handlungen. Die PolitikerInnen hingegen müssen die dadurch entstandenen Handlungsoptionen nach besten Wissen und Gewissen nutzen. Umso schwerer wiegen Missbrauchshandlungen in der Politik wie Steuerhinterziehung oder Korruption oder offensichtliche Versäumnisse bei Kontrollaufgaben. Eine Summe von moralischen Ver-werfungen und Fehlentscheidungen kann dadurch einer PolitikerIn oder einer Partei den erhofften Führungsanspruch kosten. Die Glaubwürdigkeit und die politischen Missionen der PolitikerInnen und deren Parteien werden so stark beeinflusst, dass ein gesamtes politisches System aus dem Gleichgewicht geraten und sogar die Entwicklung von Generationen gefährden kann. Und gerade deswegen ist z.B. eine Corona-Zulage von Parteien für ihre PolitikerInnen ein ethisch bedenkliches Signal, mitten in der Krise der Pandemie. Der Respekt dieser selbst auferlegten Option für politisch Handelnde bleibt insbesondere bei den vielen „Corona-Opfern“ aus, es kommt zum Eindruck einer wissentlichen Normverletzung durch die Politik selbst. Und das, obwohl die Mehrzahl der PolitikerInnen der Landkreise, der Länder und des Bundes in diesen Zeiten sicherlich hart gearbeitet haben und sich auch gegen innere Überzeugungen für eine fokussierte Bekämpfung des Virus durch Maßnahmen zeitweiliger Freiheitseinschränkungen aller BürgerInnen aussprechen mussten. Die moralische Relevanz dieser unverzüglichen Belohnungen oder anderem, oben genannten, Fehlverhaltens der Politik durch die eigenen Handlungsträger wird jedoch durch das nächste Beispiel deutlich. Denn gleichzeitig wurde die angekündigte (auch finanzielle) Wertschätzung der systemrelevanten Berufsgruppen schlichtweg vergessen.


2. Gesundheitswesen als systemrelevante Größe

In Zeiten einer Pandemie entscheidet sich das Schicksal der Menschen in einer Gesellschaft auch am Stand des Gesundheitswesens. Mehr als 1 Milliarde Euro gibt der Staat täglich für seine industrielle Gesundheitswirtschaft aus. Diese Art Vorsorge in einen gesunden leistungs-fähigen Staat findet den Respekt der BürgerInnen, selbst auch bei denen, die durch ungleiche Verteilung von Gesundheitsleistungen benachteiligt werden. Denn immer mehr gering verdienende Menschen erhalten weniger Leistungen, obwohl sie diese Leistungen immer öfter und dringender in Anspruch nehmen müssten als die finanziell bessergestellten Menschen (man nennt dies: Inverse Care Law).

Moralisch hinterfragt wird dieser Tage jedoch vor allem die Gewinnmaximierung der Privat-kliniken. Sie gehen sogar als Gewinner aus der Pandemie hervor, allerdings auf Kosten von PatientInnen, Pflegekräften und ÄrztInnen sowie den SteuerzahlerInnen. Wie ist das möglich, wenn doch 13% weniger PatientInnen im vergangenen Jahr in Krankenhausbetten einer bekannten privaten Krankenhauskette lagen? Durch geschickte Ausnutzung staatlicher Förderungspauschalen (Freihaltepauschale und zusätzliche Intensivbetten) und gleichzeitiger Verringerung von Arztkapazitäten war „2020 das goldene Jahr der Krankenhausfinanzierung“ [3]. Gleichzeitig wurden ÄrztInnen und PflegerInnen als systemrelevant beklatscht, erhielten jedoch häufig keine zusätzlichen Prämien für ihre aufopferungsvollen Tätigkeiten bei der Be-treuung von schwerkranken PatientInnen. Die Handlungsoptionen der Kliniken führten also ebenfalls zu unmoralischen Verhaltensweisen (u.a. auch im Einsparen von Arztstellen), die genauso zu verurteilen sind wie ein „Vordrängeln“ in einer Warteschleife. Der ethische Anspruch und moralische Aufruf nach Solidarität in der Krise wird also gerade von der Politik und dem Gesundheitsmanagement nicht optional verfolgt, dagegen scheinen Gewinn-maximierung und eigene Vorteile einem wahrhaft moralischen Fortschritt im Wege zu stehen. Die Folgen dieser Normverletzungen können sich nun auf die BürgerInnen selbst auswirken. Denn nach einer Beendigung der Pandemie wartet die nächste große gesellschaftliche Herausforderung: die Wende hin zu einer ökologischen und ökonomischen Gesellschaft, die nachhaltig die Folgen der Klimaveränderungen in Angriff nehmen muss.


3. Der Mensch in der Gesellschaft als „Zweck an sich selbst“

Kant erkennt den Wert im Menschen: „Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann, ist die Anerkennung einer Würde an anderen Menschen, d.i. eines Wertes, der keinen Preis hat, kein Äquivalent“ (Zweck an sich selbst) [1]. Diese Würde erlangt jeder Mensch vor allem dann, wenn er Verantwortung für sich und andere zu übernehmen bereit ist. Als Teil eines guten Lebens ist neben Freiheit und Selbstverwirklichung des in Würde lebenden Menschen das gesellschaftliche Miteinander zur Gestaltung einer kulturvollen und lebenswerten Umgebung auf unserer Erde unter Berücksichtigung sozialer und nachhaltiger Aspekte ein Lebensziel des Menschen. Dabei gilt die eingangs gestellte Normdefinition vom Respekt für die Handlungsautonomie der Anderen. Die Duldung von Verletzungen von normativen Werten durch Politik und anderen systemrelevanten Bereichen (z.B. Gesundheitswirtschaft), übrigens auch ohne die sonst bei „Normal-BürgerInnen“ üblichen Bestrafung, führt jedoch zur Eigendynamik von Verletzungsketten, u.a. betreffs unserem Umgangs mit Ressourcen und mit der Natur selbst. Die Vernunft eines Rückbaus eines invasiven Lebensstils wird kollektiv abgewählt und auch persönlich nicht konsequent verfolgt, und dies im Wissen, dabei selbst nicht moralisch zu handeln. Aber warum auch, halten sich doch gewisse Eliten der Gesellschaft ebenfalls nicht an diese Regeln. So verwundert es kaum, dass umweltmoralische Fragen stets auch als Gängelei, Verbote, Ökodiktatur und freundloses Spielverderben abgetan werden. Das „Recht auf Nackensteaks“ mit Tierethik in Verbindung zu bringen, also auf das endlose Leid von entwickelten Lebewesen hinzuweisen, ist unschön und moralisierend. Flugverzicht im Inland und das vieldiskutierte Tempolimit ebenfalls. Die Größe von Autos, Grundstücken und die Energie- und Wasserverbräuche Einzelner hat auf die globale Welt ja keinen Einfluss? Auch nicht der Konsum von Baumwoll- oder Teakholzprodukten oder der übermäßige Fleisch- und Wurstverzehr? Also können wir nichts tun? Oder hemmt uns die große Zeitspanne, in der wir handeln müssten, ohne dass wir schon spürbare Ergebnisse erzielen können?

Das permanente Hinterfragen des Fortschritts auf Prüfung von nachhaltigen Lebensweisen ist eine zu entwickelnde Handlungsoption, deren Verinnerlichung einen neuen Respekt verdient und zur Regel werden muss, wollen wir uns der Klimakrise entgegen stellen, vor allem zu Gunsten der jungen und nachkommenden Generationen. Die Handlungsautonomie der Anderen anzuerkennen ist wichtig, allerdings sind die Folgen dieser Optionen an Regeln gebunden, die alle Menschen betreffen. Besser wäre es, Optionen anzunehmen, deren Verzicht zu einem moralischen Bedürfnis werden könnte, auch wenn man diese Einsicht eben erst nach einer gewissen Zeitspanne wirklich als gut begreifen würde. Aber bis dahin sollte man auch anderweitig „gereift“ sein und dankbar für diese eingeschlagene normative Option.

[1] I. Kant; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
[2] L. Valentini; Sollten wir uns an Normen halten? Die Zeit 20 (2021) 53.
[3] G. Hamann, K. Polke-Majewski; Weniger Ärzte, hohe Gewinne. Die Zeit 20 (2021) 22.

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Das Virus und Wir: Welchen Sinn haben Viren in einer scheinbar perfekten Welt?

Jens Hartmann (2021)

Viren sind seit Milliarden von Jahren existent. Die Frage, ob Viren überhaupt Lebewesen sind, kann kontrovers diskutiert werden: Viren betreiben keinen Stoffwechsel und können sich nicht selbstständig vermehren. Aber ein Merkmal der Lebewesen besitzen auch Viren: Sie haben die Fähigkeit, sich genetisch fortzuentwickeln – etwa durch Mutationen, die ihnen Anpassungen ermöglichen. Und sobald ihr Bauplan in der DNA einer Wirtszelle eingebaut vorliegt, werden sie zu einem Bestandteil eines lebenden Systems. Sind sie nun Grenzgänger des Lebens, leblose Biopartikel oder eben Mikroorganismen? Viren gehören zumindest zum Leben [1][2].

Die genetische Fähigkeit vieler Viren, ständig und ziellos Mutationen zu bilden, bedeutet jedoch nicht zugleich, Viren hätten eine bestimmte Absicht. Es geht Viren um ihre eigene Lebensversicherung, dieses Fragment des Lebens will konsequent weiter leben. Und kann dies, ist nur ein Wirt in der Nähe. Die Frage wäre also nicht, welcher Sinn ergibt sich aus der Existenz des Virus, sondern welchen Sinn ergeben Überpopulationen auf unserer Erde, in denen sich das Virus schnell und effizient vermehren könnte. Ist der Lebensraum für eine Art beschränkt, ist das Leben dort eventuell durch seine Umwelt (Enge einer Massenhaltung) oder Nahrungsmangel geschwächt? Dann beständen für Viren gute Möglichkeiten, ihr exponentielles Wachstum voran zu treiben. In Kauf nehmend, dass ein nicht unerheblicher Anteil ihrer Wirte sogar versterben. Allein im Tierreich gäbe es dazu eine Reihe von Beispielen: Schweine- und Vogelepidemien…und prognostiziert eine Fledermausgrippe. „Es war im Jahr 2003, als urplötzlich eine schwere Infektionskrankheit weltweit eine Epidemie auslöste: SARS. Verursacht wurde das Schwere Akute Respiratorische Syndrom, kurz SARS, durch ein völlig neuartiges Virus aus der Familie der Coronaviren. Besonders häufig kommen Coronaviren in Fledermäusen vor, lösen dort aber keine Symptome aus. Als Erreger einer schweren Atemwegsinfektion, die bis zu zehn Prozent aller Infizierten töten, waren diese Viren bis dahin noch nicht in Erscheinung getreten, erklärte 2011 Prof. Dr. Christian Drosten vom damaligen Institut für Virologie am Universitätsklinikum Bonn“ [3]. Und 2012 wurde vom Robert Koch-Institut (RKI) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag eine Risiko-Analyse in Auftrag gegeben: „Das Szenario beschreibt ein außergewöhnliches Seuchengeschehen, das auf der Verbreitung eines neuartigen Erregers basiert. Hierfür wurde der zwar hypothetische, jedoch mit realistischen Eigenschaften versehene Erreger „Modi-SARS“ zugrunde gelegt. Die Wahl eines SARS-ähnlichen Virus erfolgte u. a. vor dem Hintergrund, dass die natürliche Variante 2003 sehr unterschiedliche Gesundheitssysteme schnell an ihre Grenzen gebracht hatte. Die Vergangenheit hat bereits gezeigt, dass Erreger mit neuartigen Eigenschaften, die ein schwerwiegendes Seuchenereignis auslösen, plötzlich auftreten können (z. B. SARS-Coronavirus (CoV), H5N1-Influenzavirus, Chikungunya-Virus, HIV). Unter Verwendung verein-fachter Annahmen wurde für dieses Modi-SARS-Virus der hypothetische Verlauf einer Pandemie in Deutschland modelliert, welcher sowohl bundesrelevant als auch plausibel ist“ [4]. Weiter unten kann man dann zusammenfassend in der Mitteilung lesen: „…das Besondere an diesem Ereignis ist, dass es erstens die gesamte Fläche Deutschlands und alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Ausmaß betrifft, und zweitens über einen sehr langen Zeitraum auftritt. Bei einem Auftreten einer derartigen Pandemie wäre über einen Zeitraum
von drei Jahren mit drei voneinander getrennten Wellen mit immens hohen Opferzahlen und gravierenden Auswirkungen auf unterschiedliche Schutzgutbereiche zu rechnen“[4].

Die Gefährlichkeit einer solchen SARS-Pandemie ist also seit vielen Jahren bekannt. Ein Vorsprung, den wir Menschen nur teilweise nutzen konnten. Zwar stiegen die ersten Forscher schon frühzeitig ein, um Mechanismen zur Bekämpfung des Virus als Impfstoff zu finden, die Gefährlichkeit und Vielseitigkeit des Virus wurde jedoch zunächst unterschätzt bzw. nicht aufgedeckt. Denn kaum ein Virus kann wie SARS-CoV-2 fast alle Zellen des menschlichen Körpers befallen, ob Nervenzellen, Respirationstrakt, Herzgefäße oder Darmzellen [5]. Das Virus ist in seiner Vielseitigkeit derzeit unübertroffen! Die Tatsache, dass es bei diesen Viren auch leichte Krankheitsverläufe gibt, heißt, dass es lange übertragbar und unerkannt viele Wirtorganismen infizieren kann.

Das Ebola-Virus dagegen ist ansteckender und weitaus tödlicher. Die dadurch entstehende Krankheit (Ebola-Fieber) führt in der Regel immer zu schweren Verläufen, welche die Mobilität der Erkrankten sofort verhindert. Eine weitere Übertragbarkeit erscheint somit begrenzter als bei SARS-CoV-2. Die hohe Letalität der Wirte führt bei Ebola-Viren zudem zu einer geringeren Möglichkeit der Verbreitung.

Es gibt eine Vielzahl von möglichen Mechanismen und Wirkungen von Viren, vorausgesetzt es besteht die Nähe zu einem möglichen Wirt. Schlussendlich wird auch dieses Virus durch sein immenses Wachstums- und Mutationsverhalten auf diesem Planeten für immer verbleiben. Und, da Viren Begleiter des Lebens und der Evolution waren und sind, wartet auch schon das nächste Virus auf uns!

Und wie schon das aktuelle Virus, so werden möglicherweise auch weitere Viren kein Gebiet dieser Erde, keine Klasse oder soziale Schicht verschonen. Das Virus macht keine Unterschiede zwischen den Menschen. Direkte Schäden (Erkrankung, Tod) oder indirekte Schäden (Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft) tragen mehr oder weniger alle Menschen, alle Länder dieser Erde. Eine Abschottung ist aufgrund der Globalisierung und Mobilitätsansprüche kaum mehr möglich, dies erinnert stark an Becks These von der Risikogesellschaft, in der wir leben. „In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen. Es kommt zu einem „Wechsel von der Logik der Reichtumsverteilung […] zur Logik der Risikoverteilung“ [6].

Auch wenn Beck seine These 1986 zunächst vor allem auf die Risiken des wissenschaftlich- technischen Fortschritts bezieht (damals: Tschernobyl), kann man diese Entwicklungen auf die aktuellen gesellschaftlichen und ökologischen Problematiken übertragen. Klimawandel und schneller Anstieg der Weltbevölkerung sind Ergebnisse dieser Etappe der Risikogesellschaft und gipfeln in ökologischen und pandemischen Katastrophen, die eben auch durch Sicherheits- und Folgenabschätzung der Wissenschaft nicht verhinderbar zu seien scheinen. Zum Risiko an sich wird nun der Mensch selbst, der sich so massenhaft reproduziert und dabei einen so großen ökologischen Fußabdruck hinterlässt, wie kein anderes höhere Lebewesen auf diesem Planeten. Anstatt eine perfekte Welt anzustreben, ergeben sich nun beste Voraussetzungen für Risiken wie neue Krankheiten, Epidemien und Plagen, rasantes Artensterben, weltweite Verteilungskriege und Ernährungsprobleme. Genau das, was gerade im 21. Jahrhundert überwunden schien und den Menschen durch Biotechnologie
Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz den Weg ins „Götterreich“ ebnen sollte, wird ihm nun zu einem Rebound von existentieller Größe [7].

Viren sind ein Teil des Lebens, ein Teil der Natur. Sie haben keinen Plan und sie werden die Menschheit nicht auslöschen. Sie tun, was sie immer taten; nur ihren Teil zu einer Entwicklung, die vom Menschen ausging und deren Entwicklung sie synergistisch begleiten. Die Demut der Menschen vor der Natur und den natürlichen Gleichgewichten auf der Erde, die so perfekt waren wie auf keinem Planeten bisher im Weltall, sollte uns heute mehr denn je beschäftigen und zum Nachdenken bewegen: Was wird, wenn diese Pandemie überwunden scheint und die Wolken der vielen harten und weichen Shutdowns sich verzogen haben? Wir werden erst dann das Ausmaß der Seuche in Gänze sehen! Geht’s dann so weiter wie bisher?


[1] M. Vieweg, 20. März 2020; wissenschaft.de: www.wissenschaft.de/gesundheit-medizin/sind-viren-lebendig/


[2] U. Bahnsen, A. Sentker; Nach den Regeln der Natur, Die Zeit 4 (2021) 39-40.

[3] www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/gefahrliche-eindringlinge-droht-nach-der-schweine-und-vogelgrippe-in-zukunft-eine-3200.php


[4] Drucksache 17/12051 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode (2012).
[5] A. Mende; Der ganze Körper ist betroffen; Pharm. Ztg. 165 (2020) 26-33.
[6] U. Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1986.
[7] Y. Harari, Homo Deus, C.H. Beck-Verlag (2017).
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Aphorismen zu: Wer sind wir Menschen in Zeiten einer schweren Pandemie?

Jens Hartmann (2020)

Noch nie gab es in unserer Gesellschaft so eine Polarisations-Dynamik. Das Virus SARS-CoV-2 wirbelt nicht nur unser Gesundheitswesen auf, es bricht die Gesellschaft in Teile und lässt unsere Schwächen mit Krisen erkennen. Gemeint ist nicht unser Immunsystem, sondern unser Denken und Handeln in Zeiten einer unfassbaren schnell-entwickelten Pandemie. Vor einem Jahr waren Einschränkungen dieser Art unfassbar: Mundschutz, Beherbergungsverbot, Gaststätten- und Theaterschließungen oder das Lahmlegen ganzer Wirtschaftszweige. Oder eine Benachrichtigungs-App für Millionen von Menschen. Und dennoch: der durchschnittliche Mensch sieht die Maßnahmen als vernünftig an und bleibt offenbar optimistisch: es werde einen Impfstoff geben und damit die „Trockenlegung“ der virale Gefahr. Diese Flamme namens Zweckoptimismus wird jedoch noch lange mit Sauerstoff versorgt werden müssen.

Indes skandieren jedoch sogenannte Querdenker durch die Städte, als gäbe es den Alptraum des Shut-down im Frühjahr nie. Das sie Bilder von Wissenschaftlern und Politiker in Gefängnis-Kleidern mit sich tragen, hat etwas Schauerliches und erinnert an die „Finsterjahre“ eines Nationalsozialismus, mit-erlebt von unseren Vätern und Großvätern.

  1. Die Verharmlosung des Virus und die Negierung wissenschaftlicher Tatsachen sind gefährlich, aber mit einer zu geringen Bildung noch erklärbar.

  2. Die Nichtachtung der Schicksale von Schwererkrankten mit ihren Folgeschäden und dem Ignorieren der Tausenden Toten ist ein zivilisatorischer Rückschritt und ein Moralverfall, der aus einer getriebenen Wachstumsgesellschaft ohne Grenzen hervor gebrochen ist.

  3. Die Tatsache, dass es in der breiten Öffentlichkeit (Medien, Politik) weder eine klare Be-kenntnis zu den Wissenschaften gibt, noch einen respektvollen angemessenen Umgang mit den Toten (außer, das täglich ihre Zahl wie die Tagestemperatur genannt wird) zeigen, dass wir (1) und (2) nichts entgegenzusetzen haben, nicht einmal die Verteidigung unserer eigenen Werte.

  4. Die Tatsache, dass Mitmenschen es wollen, das Politiker und Wissenschaftler eingesperrt werden sollen, ist ein nicht normaler undemokratischer Zustand. Ein gesamtgesellschaftlicher Aufschrei zu diesen Verhaltensmustern blieb aus, genauso wie zu den unerträglichen Verdachtsbeschuldigungen auf unsere Polizei, diese wäre rechtsgewandt und rassistisch! Wo bleibt hier die Courage und Solidarität gegenüber denen, die tagtäglich unser Grundgesetz verteidigen?

  5. Das nun auch noch Publizisten und Journalisten Öl ins Feuer gießen, indem sie eine breite Meinungsoffensive herbei reden wollen, um auch ja diejenigen eine Bühne zu geben, die angeblich vom Konsens der Vernunft mundtot gemacht werden, heißt einfach nur die Ablehnung der wissenschaftlichen Vorhersagen durch den Konsens der Wissenschaftler selbst. So ist es übrigens auch mit dem Klimawandel!

  6. Eine tiefgreifende Eigenverantwortung der Bevölkerung fand nicht statt, weil offensichtlich der Staat die Rolle des Führers und Lenkers der Pandemie so fest in den Griff hatte, dass sich allgemein nur darauf verlassen wurde - gleichwohl täglich der Aufschrei der Liberalen nach bürgerlichen Freiheiten gerade diese Rolle stetig in Frage stellte.


Anstatt Milliarden an Euro in wirtschaftliche Geschäftsmodelle zu stecken, die keine Zukunft mehr haben, sollte der Staat diese Mittel jetzt vor allem in seinen Umbau, in Bildung und Umweltschutz geben. Eine besondere Bedeutung muss dabei unserer Jugend zukommen, die teilweise fortschrittlicher denkt, als wir das annehmen im Sinne des Philosophen Ernst Bloch (1885-1977): „Der Fortschrittsbegriff ist uns einer der teuersten und wichtigsten. Daher ist der Fortschrittsbegriff jedes Mal auf seinen gesellschaftlichen Auftrag, also auf sein Wozu zu beobachten und zu untersuchen; denn er kann missbraucht und geradezu kolonial-ideologisch pervertiert werden.“

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Mahnungen an die Wissenschaft

J. Hartmann (2020)

Der Shutdown und seine Folgen regen unser Denken an. Wir waren Zeugen einer, seit dem 2. Welt-krieg niemals erlebten, Lahmlegung des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft. Die Verarbeitung dieses unwirklichen Ereignisses lässt nun der demokratischen Vielfalt an Meinungen freien Raum: PopulistInnen und VerschwörungstheoretikerInnen, existenziell Betroffene, COVID-19 Erkrankte und Risikogruppen, ImpfkritikerInnen, BotschafterInnen von sozial Benachteiligten, WissenschaftlerInnen und PublizistInnen, PhilosophInnen und MedizinerInnen. In einer gesunden Demokratie wird gestritten. Während Notfallmediziner und deren MitarbeiterInnen als systemrelevante Retter kurzzeitig beklatscht wurden, zielt der Unmut vieler Menschen auf WissenschaftlerInnen und deren Thesen. Seriöse PublizistInnen setzen beispielsweise Warnrufe ab in Richtung Wissenschaft: Nicht predigen, sondern forschen [1]. Andere versuchen WissenschaftlerInnen zu differenzieren. Nur forschende WissenschaftlerInnen dürften sich öffentlich äußern, die anderen seien „nackt“ und sollten schweigen [2].


Hintergrund der Debatten ist eine allgemeine Verunsicherung von Wissenschaft und Gesellschaft über die nächsten Schritte einer ökologischen und ökonomische Wende: Weg von Missbrauch und Ausbeutung der Erde, des Menschen, der Völker und anderen Tieren. Hin zu Nachhaltigkeit, Stabilität statt Wachstum und moralischer Fürsorge. Die meisten von uns sind dabei verstrickte Subjekte. Als verstrickt gilt nach Rothberg all jene, die in Machtverhältnissen wohnen, in die sie hineingeboren wurden und zu deren Ungerechtigkeit sie durch ihr tägliches Handeln beitragen und davon profitieren [3]. Individuell schuldig machen wir uns damit nicht, doch unsere Gedanken über eine Neuordnung verlaufen dadurch zunehmend im Kreise. Warum?


Ein propagiertes Ziel heißt: Schaffung von Innovationen zum Klimaschutz und zur Welternährung und richtet sich dabei deutlich an die Wissenschaft [4]. Ihr müsst erfolgreich forschen! Fast jeder sieht jedoch die selbst markierten Grenzen, die sich längst auftun, um Innovationen zu realisieren. Kein Argument ohne Gegenargument, kein erkämpfter Fortschritt ohne neue, meist unüberwindbare Schranken. E-Mobilität nur mit Seltenen Erden, Wasserstoff aus Wasser nur mit hoher Effizienz und nachhaltige Verpackungen mit neuen Ressourcenverbrauch. Erreichen wir dann das Ziel, greift der Rebound-Effekt. Energieeinsparungen durch Innovationen werden verschenkt für ein noch bequemeres Leben. Und den weiteren Ausbau neuer Infrastrukturen in Form von Ladestationen, Wasserstoffspeicher und Leitungstrassen. All dies ist notwendig und angedacht, jedoch ist es auch durchdacht? Oder führen uns diese neuen Ziele nur in eine weitere Spirale der technischen und digitalen „Aufrüstung“, verbunden mit der noch intensiveren Ausbeutung von Natur? Und dann sind da noch die Kritiker der These eines anthropogen verursachten Klimawandels [5]. Als „wahre Klimaaktivisten“ klagen sie an, dass eine umgreifende Wende gar nicht erforderlich und damit der Aktivismus der verstrickten Subjekte die eigentliche Gefahr sei.


Wenn es aus all diesen Dilemmata einen Lösungsweg geben sollte, dann könnte es die, nicht neue, Erkenntnis sein: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt! Jetzt geht es um weniger Konsum und Energieverbrauch, weniger Fleischproduktion und weniger Verpackungen, um weniger –ja auch - Chemie. Diese Herausforderungen sind wahrlich gesamtgesellschaftlich und moralisch anzugehen und ohne die Wissenschaften nicht zu begleiten! Während der erste Imagewandel der Chemie vom Problemverursacher zum Problemlöser anerkennend vollzogen wurde, muss nun die Wissenschaft beweisen, ihre Ressourcen deutlich zu senken und die Grundlage für langlebige Produkte und deren Begleitung bis zum Recycling zu schaffen. In diesem Sinne sollten ChemikerInnen das Leitmotto Ihrer Fachcommunity Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) „Wir entdecken Chemie für eine bessere Welt“ schärfer zeichnen, um zu definieren, wie diese bessere Welt eigentlich aussehen sollte. Besser im Sinne von noch mehr Komfort, Freiheit und Quantität oder besser im Sinne eines lustvollen Verzichts von materiellen Besitz-und Mobilitätsansprüchen sowie Statussymbolen?


Hier sollten auch ChemikerInnen klarere Linien ziehen und einen Rückbau zulassen, um die Rebound-Effekte wirksam einzudämmen. Viele Projekte stehen an, deren Umsetzung gegen wirtschaftliche Profitinteressen endlich vorangetrieben werden sollten, darunter auch die Einstellung der Produktion von Stoffen, die gesundheitlich oder ökologisch zumindest umstritten sind. Zudem gilt es in der Wissenschaft einen stärkeren inneren Ethik-Diskurs zuzulassen, um sich dann auch zunehmender Wissenschaftskritik aus der Gesellschaft erfolgreich zu stellen. Dieser Mangel im Inneren führt derzeit zu Irritationen nach außen und die Verbreitung kruder Theorien einer zunehmenden Verweigerungscommunity. Der wissenschaftliche Konsens wird so zunehmend ignoriert, dies erschwert die Durchsetzung einer so dringend erforderlichen ökonomischen und ökologischen Wende.

[1] Thea Dorn: Nicht predigen sollt ihr, sondern forschen, Die Zeit 24 (2020)
[2] Martin Spiewak und Jan Schweitzer: Der Widerspruchsgeist, Die Zeit 31 (2020)
[3] Michael Rothberg: The Implicated Subject (2019)
[4] Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger: Nachr. Chem. 68 (2020)
[5] ChemFacts 4 future inkl. Kommentare (GDCh-Webseite, 2020).

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Zum zivilisatorischen Fortschritt in der Corona-Krise: Reflexionen zum Kommentar von Harald Welzer

Heike Westermann, Jens Hartmann

In der TV-Talkrunde mit Markus Lanz (17.03.2020) zum Thema Corona-Virus pries Harald Welzer [1] in seinem Abschlussstatement den zivilisatorischen Fortschritt in Hinblick auf den Umgang mit den ,,Schwachen" in unserer Gesellschaft und argumentierte, dass die heutigen Gesellschaften erstaunlicherweise zugunsten dieser ,,Schwachen" erhebliche Einschränk-ungen und persönliche Verluste in Kauf nehmen würden. Er verwies dabei u.a. auf vergangene Kriege, die Shoa in Zeiten des Nationalsozialismus sowie die Euthanasie, Unrechts-Regime wie die von Mao Zedong und anderen Diktatoren und deren Massenmorde in der Geschichte der Menschheit.

Diese beispiellosen Verbrechen zeigen tatsächlich die dunkelste Seite der menschlichen Zivilisation, und stehen damit außerhalb all dessen, was man Zivilisation nennen sollte. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sich dies nie wieder so wiederholen könnte.

Die Aussage, dass unsere heutigen Zivilisationen bereit sind, Einschränkungen zugunsten ,,Schwacher" zu ertragen, ist jedoch nicht überzeugend signifikant.
Zweifel kommen auf, nicht erst seit dem man weiß, das Obdachlose in Pandemie-Zeiten eben nicht zu Hause bleiben können und auch sonst keine Bleibe oder Mahl mehr bekommen, während die Regierung einen Billionen-schweren Rettungsschirm aufspannt.

Es gibt tausende PflegerInnen und Schwestern, die einst aus einem tief empfundenen Altruismus in ihrer Berufstätigkeit heute die Illusion verloren haben, dass ein persönlicher Altruismus auch ein gesellschaftlich gelebter ist. Die Erfahrungen zeigten, dass Behinderung, Krankheit, Hinfälligkeit, Sterben und Tod in unserer ,,Eventgesellschaft" immer mehr aus unserem Blickfeldern eliminiert werden. Krankheit und Tod wird (wenn überhaupt) nur noch von den allerengsten Verwandten begleitet und gestorben wird hierzulande in Kliniken und Pflegeinrichtungen oder im besten Fall auch in einem Hospiz.
Noch vor wenigen Jahrzehnten bestimmte die Pflegekraft den Zeitaufwand für den jeweiligen Patienten mit, jetzt wird dies scharf von den Einrichtungen und von den Krankenkassen reglementiert. Genügend Zeit für Zuwendung, Gespräche und Fürsorge schließt dieses, auf Gewinn ausgerichtetes, System konsequent aus.

Und doch scheint es, dass unsere Gesellschaft zutiefst human geworden ist, weil sich in unserem Land Krankheit, Siechtum und Armut nur sehr selten in der Öffentlichkeit präsentieren. Gelitten und gestorben wird außerhalb unseres Blickfeldes. Pflegende und (mit)leidende Angehörige sind darin eingeschlossen. Ein anderer Aspekt sind Obdachlose, welche immer konsequenter aus den Innenstädten vertrieben werden. Was wir nicht sehen, das findet auch nicht statt? Diese ,,Kosmetik" verschönert das Gesamtbild unserer Gesellschaft, dem „Schwachen" nützt sie wenig.

Erkennbar ist das Verdrängen von Krankheit, Behinderung und Tod auch an unserem zunehmend kollabierendem Pflegesystem und dem permanenten ,,Schlechtreden" von Pflege-und Gesundheitsberufen in unserer Gesellschaft und unserer Medienlandschaft. Unser
scheinbar fürsorgliches Gesundheits- und Pflegesystem verfällt nach und nach zu einem rein ökonomisch orientierten und ethisch höchst prekärem System, in welchem der Patient schon in der Notaufnahme auf seinen ökonomischen Wert für die jeweilige Einrichtung evaluiert wird.

Unser Gesundheitswesen krankt aus diesen Gründen immer mehr an einer stetig schwindenden „Manpower“. Denn wer wählt schon einen Beruf, welcher unterbezahlt, wenig anerkannt, zermürbend und von Burn-out bedroht ist? Und doch so unbeschreiblich systemrelevant, wie sich in der Krise heraus stellt! Zeigt sich nicht auch in den zunehmenden Angriffen auf Rettungskräfte, dem Verweigern von Rettungsgassen und dem Posten von Unfallopfern auf Instagram, dass Krankheit, Behinderung, Leid und Tod nicht ,,gesellschafts-fähig", aber allenfalls fotogen sind.

Insofern ist zumindest Zweifel angebracht an der „Welzer-These“, dass wir heute in einer wirklich wesentlich humaneren Gesellschaft leben, auch wenn unser Grundgesetz und das vieler Länder dieser Erde auf humanen Regeln aufgebaut sind. Ja, wir haben (zumindest in der westlichen Welt) barbarische Kriege, Hunger und Massenmorde hinter uns gelassen. Doch wir produzieren ohne Skrupel Waffen, welche Kriege außerhalb unserer ,,Komfortzone" im wahrsten Sinne des Wortes befeuert und genießt die Gewinne aus diesen, für uns fast unsichtbaren Konflikten. Wir werden nur dann unruhig, wenn die Vertriebenen dieser Konflikte vor den Grenzen unserer „Komfortzonen“ auftauchen. Mehr Empathie für ,,Schwache"? Es ist nicht bekannt, dass die EU auch nur ein krankes Kind aus dem kalten Matsch dieses Winters von Lesbos in unsere humane „Komfortzone“ geholt hat. Und auch bei der Corona-Pandemie lässt der Altruismus unserer Zivilgesellschaft noch viel Platz nach oben. Unfassbar, dass Polizisten bei Ihrer Arbeit angehustet werden...!

„Zivilisation aber kann […] nie anders aufgefasst werden als die Umgestaltung der Welt zum Nutzen des Menschen. Er zivilisiert sie und sich, d.h. er macht sie und sich für seine Zwecke brauchbar, um besser leben zu können“ [2].

Die Hoffnung nach zivilisatorischen Fortschritt, zum Beispiel nach einer überstandenen Virus- Pandemie wie diese, läge in einem nachhaltigen Zuwachs an Empathie, Vernunft und Altruismus als Werte, die einer Leistungsgesellschaft anbei gestellt werden sollte. Ein „weiter so“ nur mit den Mitteln der digitalen Revolution inklusive hauptsächlicher „online“- Kommunikation und freizügiger Datenabgaben führt uns dagegen in weitere menschliche Krisen.

[1] H. Welzer (geb. 1958) ist ein prominenter deutscher Soziologe und Publizist.
[2] R. H. France; Welt, Erde und Menschheit; Ullstein Verlag Berlin (1928).

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Der Fortschrittbegriff in Zeiten einer ökologischen Wachstumswende

J. Hartmann, H. Westermann

Eine ökologische Wachstumswende ist per se noch kein Fortschritt. Sie wäre jedoch zwingend notwendig, um die Ressourcen der Erde nicht vollständig zu verbrauchen und einen endgültigen Raubbau an der Natur einzudämmen. So muss es gelingen, die Menschen für diesen Konsens der Vernunft zu begeistern, obwohl man deren Freiheitsgrade einschränken muss. Ein Dilemma, welches derzeit in der Gesellschaft vor allem die Politik zu spüren bekommt: Klima-Pakete werden geschnürt unter der Annahme, dass Innovation in Technik und Wissenschaft sowie ein stärkeres Wachstum der Wirtschaft durch die Digitalisierung uns Zeit verschaffen sollte, um eine einschneidende ökologische Wende zu verzögern.

Die Autoren dieses Beitrags sind überzeugt davon, dass uns gerade diese Zeit fehlen wird, um vernünftige Schritte jetzt zu realisieren. Im Kant´schen Sinne: „dass die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreite, dies anzunehmen berechtiget ihn keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet“1.
Der Fortschrittsbegriff wird durch Wissenschaft und Technik geprägt, die Schnelligkeit unseres Wollens und Tuns ist die Triebfeder. Die letzten 100 Jahre der menschlichen Zivilisation waren ein steter Wettlauf von wissenschaftlich-technischen Nutzbarkeiten für den Teil der Menschheit, der sich diesen Nutzen leisten konnte. Spätestens durch die Entwicklung in Asien seit 1945 wird genau dieser Teil der Menschheit immer größer bei gleichbleibenden Ressourcen und Flächen sowie bestehenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten auf der Erde. „Im Grunde verhindert der technologische Fortschritt, dass wir unsere Lebensweise den begrenzten Ressourcen auf der Erde anpassen“2. Ein Kollaps droht.

 

Beispiel Fortschritt und Mobilität

In Deutschland wurde durch die Energiewende ab 2000 ein wichtiger Schritt, auch bezüglich einer Elektro-Mobilität, eingeschlagen: die Etablierung der Erneuerbaren Energien stellt die Basis einer ökologischen Wende dar. Gleichzeitig ist unser Energieabdruck mit 125 kWh pro Person und Tag viel zu hoch. Selbst bei kalkulierten optimalen Ausbau der Erneuerbaren Energien in Deutschland ist dieser Abdruck nicht abzudecken3. Die Politik betont dabei stets die ökonomische Verträglichkeit einer ökologischen Wende und schließt harte Regeln (Gesetze) und Verbote aus, propagiert dagegen Steuern als das Regelelement. Am 17. Oktober 2019 wurde im Bundestag über ein Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen abgestimmt4. Während in der Bevölkerung eine knappe Mehrheit (56 %) für eine Tempobegrenzung zu verzeichnen war, wurde im Parlament der Vorschlag der Grünen Partei eindeutig abgeschmettert. Damit wurde ein wesentliches Signal nicht gegeben, das die Gesellschaft so stark gebraucht hätte: den symbolischen Startschuss zu einem Rückbau eines Privilegs und der vernünftigen Einschränkung im Sinne der Ressourcenschonung, der Emissionsreduzierung und der Sicherheit der Menschen. Besonders bedenklich scheint die sprachliche Wahl der Begründung zu sein: „Totalüberwachung unserer Autobahnen“, „ideologische Forderung“, „Bevormundung der Bürger“. Dies zeigt die geringe Verantwortung der Regierenden, sich an die Spitze einer Wachstumsreduktion zu setzen, dagegen wird eine Ablehnung einer modernen Verkehrspolitik suggeriert und ein Festhalten an Wirtschaftsinteressen mit dem Totschlagargument der sicheren Arbeitsplätze.

Dabei könnte man den Ausbau der Verkehrsnetze sogar als Wachstum propagieren, allerdings nur dann, wenn Autos mit sinnlos hohen Verbrauch aus den Städten entnommen werden und eine ländliche Anbindung wirklich erfolgt. Die Vorteile der Digitalisierung könnten hier genutzt werden, um mehr Menschen in weniger Autos zu transportieren. Dagegen wäre die alleinige Substitution von PKW mit fossilen Antrieben durch Elektroautos der falsche Weg. Dieser führt uns in neue Abhängigkeiten mit alten Problemen. Denn der Ausbau der dafür notwendigen Infrastruktur und die Herstellung, das Laden und Recycling von Batterien würden in einen gigantischen Ressourcenverbrauch führen, ohne dass sich Staus und Unfälle reduzieren und Abhängigkeiten von Entwicklungsländer inkl. deren moralisch verwerflichen Ausbeutung vermieden werden. Auch hier wurden 20 Jahre vertan, in denen z.B. die Hybrid-Antriebstechnik als Übergangstechnik serienfähig zu machen und die Pläne für Wasserstoff-Antriebe in den Schubläden der Wissenschaftler lagen.

 

Wachstumsrückbau und Traditionen

Wissenschaftler weisen längst darauf hin, dass exponentielles Wachstum in der Natur zum Beispiel beim Wachstum von Bakterienkulturen oder bei Tumoren, sprich, bei primitiven bzw. krankhaften Prozessen beobachtet wird, die schließlich an ihrer eigenen Dynamik scheitern5.

Der Lösungsansatz wäre folglich der Rückbau des Wachstums im ökonomischen und ökologischen Sinne sowie das Aufhalten eines sozialen Gefälles auf einer Basis der traditionellen Lebensweisen einer vernünftigen industriellen Zivilisation. „[…] da wir die Ordnung unserer Gesellschaft der Überlieferung von Regeln verdanken, … muss aller Fortschritt auf Tradition beruhen“6. Entsprechende Lebensweisen wie Sparsamkeit und Verwertung, Regionale Produktion und kurze Transportwege, fairer Handel, langlebige Produkte, Entschleunigung unseres Lebens könnten verknüpft werden mit den technischen Errungenschaften des Fortschritts wie Digitalisierung, Maschinenbau und Biotechnologie unter Ausschluss einer Erfolgsmaximierung und Einschluss ökologischer und moralischer Kriterien. Kein Mensch will zurück zu Ofenheizung oder Wählscheibentelefon. Dagegen fordert die Mehrheit endlich das Aussteigen aus einer unethischen Massentierhaltung.

Die Autoren diskutieren die Rolle der Ingenieurtechnik heute, u.a. an Konzepten nachhaltiger Landwirtschaft, Alternativen zu Verpackungen aus Plastik, Wasserstoff-Technologien und eine CO2-Sorption und deren Nutzung. Gerade jetzt wird die Ingenieurtechnik gefordert sein, da die ökologischen Rahmenbedingungen konkreter und somit die Innovationen noch fokussierter und erfindungsreicher werden müssen.

Entscheidend, so argumentieren die Autoren, wird aber sein, in wie weit die Menschen eine ökologische Wende der Reduktion und Sparsamkeit als Chance und als Gewinn sehen, ohne die jetzige geistige Polarisierung weiter zu betreiben und sich in die eigene Ich-Beziehung zurück zu ziehen: „Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt bedeutet den Rückbau falscher Entwicklungspfade. Und der Falscheste von allen ist: die soziale Lebensform der menschlichen Gattung immer weiter zu desozialisieren“7. Ein geplanter Wachstumsstopp und der Verzicht auf räuberischen Luxus könnte uns einen wesentlichen Nutzen bringen: eine Entschleunigung des Lebens mit der Hoffnung einer gegenseitigen Annährung von Grundinteressen. Diese Aussicht auf ein gutes Leben im Einklang mit der Natur muss als Hoffnung kommuniziert werden, um Ängste gerade derer abzubauen, die den alten Fortschrittsbegriff durch Wachstum vergöttern.

1 I. Kant; Über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibnitz und Wolf, 1791.

2 A. Ernst; Center of Environmental System Research der Universität Kassel, in: Was kann der Deutsche Ingenieur?
in  M. Jauer, Die Zeit 41 2018, 15-17.

3 C. Holler, J. Gaukel; Erneuerbare Energien, UIT Cambridge, 2019.

4 https://www.abgeordnetenwatch.de/bundestag/abstimmungen/tempolimit-auf-deutschen-autobahnen (17.10.2019)

5 J. Grahl (2010); wachstumsruecknahme.qsdf.org/wachstumskritik.html  (07.11.2019)

6 F. A. von Hayek; Recht, Gesetz und Freiheit (1979) , Mohr-Siebeck, Tübingen 2003

7 H. Welzer; Alles könnte anders sein, Fischer-Verlag, 2019.

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Aphorismen zur Lage in Zeiten des Klimawandels im Sommer 2019

In diesen Tagen und Wochen entsteht ein längst fälliger Diskurs über die Zukunft unserer Welt unter den Eindrücken der zunehmenden wissenschaftlich fundierten Mahnung um den globalen Klimawandel. Zukunftsbewegungen und Wissenschaftler mahnen einen schnelleren und radikaleren Wechsel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an, um Klimaziele und Nachhaltigkeit zu erreichen. Über dies wird eine Kritik am Kapitalismus, als Lösung der Probleme wieder lauter. Dagegen stellen sich die liberale Wirtschaft und die konservative Politik mit kleinen verträglichen Teilschritten und einem Statement gegen jedwede Verbote und Verhaltensmaßregeln.

Insbesondere die Realpolitik verlässt sich auf die Wirkmechanismen der Marktwirtschaft und die Innovationskraft der Wissenschaft und Technik. Das Wachstum wird dabei nicht nur nicht in Frage gestellt, es wird zur Lösung der Probleme weiter ausgegeben.

Die Frage, ob ein Wachstum stets möglich wäre, hängt sehr von den Bedingungen, also der Wachstumsumgebung, ab. Biologisch gibt es kein stetiges Wachstum!

Das Wachstum der Innovationen in Wissenschaft und Technik ist weiterhin groß, auch durch die Möglichkeiten, zwischenzeitlich von einer realen Welt in eine virtuelle Welt wechseln zu können. Die Bedingungen zur Realisierung von Innovationen sind jedoch durch Klimaschutz, Wachstum der Weltbevölkerung und Ressourcenschonung stark eingegrenzt. Ohne eine Reduzierung unserer Bedürfnisse und dem Wachstumsrückgang der Wirtschaft werden sich langfristige Ziele nicht verwirklichen lassen.

Wissenschaft, Technik und Ökonomie müssen daher nach neuen Mechanismen und Prinzipien suchen, durch Reduzierung und Wachstumsrückbau die Gesellschaft neu zu organisieren. Jedem ist zum Beispiel klar, dass die Anzahl der Verbrenner-Autos nicht genau durch die gleiche Anzahl von Elektro-Autos ersetzt werden kann. Möglich ist nur eine radikale Neuregelung unserer Mobilität.

Die Gesellschaft benötigt dazu einen Konsens der Vernunft, der dieses Dilemma Wachstum kontra Wachstumsbedingungen nicht nur versteht, sondern auch danach handeln will und dadurch eine freie Massenbewegung im Konsumverhalten gegen die Profitansprüche der Großindustrie hervor-bringen muss.

Dieser Konsens der Vernunft ist aufgrund der Menschheitsentwicklung kaum möglich. Es sollte daher ein internationaler Ausnahmezustand Klima ausgerufen werden.

Die stets geäußerte Meinung konservativer Akteure, der Klimawandel sei global und andere Länder müssten jetzt gemeinsam mit Deutschland an einem Strang ziehen, sonst sei Klimaschutz sinn frei, ist eine rhetorische Einbahnstraße. Gerade Deutschland hat durch seine Wirtschaftskraft viele Länder der Welt ökonomisch abhängig gemacht und eigene freie Strukturen des Wachstums in diesen Ländern verhindert. Schon deshalb sollte Deutschland bedingungslos die Vorreiterrolle im Klima-schutz übernehmen.

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Wertedenken in Life Science Engineering

Die Formulierung und Durchsetzung ethischer Grundsätze und Werte werden bei der Ausbildung von Ingenieuren in den Lebenswissenschaften (Life Science Engineering) zukünftig an Bedeutung gewinnen. Die immer schneller werdende Wachstumsgesellschaft mit ihren Technologietreibern Biotechnologie und Digitalisierung erzeugt in unserer Gesellschaft gerade einen technologischen und gesellschaftspolitischen Sprung, wie man ihn noch nie verzeichnete. Neue Produktionsprozesse, Vernetzungen von Prozessen, Anbietern und Daten sowie zunehmende Digitalisierungsstrategien werden schnell den Markt beherrschen, ohne dass eine wirkliche gesellschaftliche Reflexion stattfinden kann. Eine soziale Marktwirtschaft wird so nur noch eine geringe Chance haben, sich zu behaupten. Der Gesellschaft fehlt es an wahrhaftigen Informationen, an moralischen Orientierungen und vor allen an Durchsetzungsvermögen. Beispiel: der Umgang mit den Verfehlungen der deutschen Autoindustrie.

So auch auf dem Sektor des Life Science Engineering, der Ingenieurwissenschaften rund um die Themen Ernährung und Gesundheit. Zahlreiche Fallbeispiele über Gentechnik, Pharmaforschung, Lebensmittelqualität oder über den Umgang mit Ressourcen und der Umwelt zeigen gelegentlich Fehlentwicklungen und -meldungen, inkonsequentes Handeln, Intransparenz und Verdeckungen der wahren Probleme. Personenkreise, Firmen oder ganze Branchen kommen so in Misskredit. Und überdecken all die Aktivitäten derjenigen, die im Sinne von Moral und Nachhaltigkeit echte Verbesserungen in den jeweiligen Branchen erzielen.

Im Mittelpunkt eines neuen Wertedenkens in Life Science Engineering als ein Teilgebiet der Ingenieurethik stehen interdisziplinäres Denken und Folgenabschätzung sowie die nachhaltige Umsetzung fortschrittlicher Ideen mit hoher Verantwortung. Es werden „Werkzeuge“ aufgezeigt, ingenieurtechnische Entscheidungen moralisch zu begleiten, allen voran Technologie(folge)abschätzungen, Risikoanalysen und Präventivmaßnahmen für die Gesundheit der Menschen, für Tierrechte und nachhaltiger Umwelterhaltung. So müssen fortschrittliche Strategien oft auf Verträglichkeitskriterien geprüft und neue Rahmen-bedingungen geschaffen werden.

In einer durch die Technologie weiter wachsenden und von ihr getriebenen Gesellschaft werden Bedürfnisse nach Regeln, Entschleunigungs-Maßnahmen und moralischen Grenzen notwendig, um unsere Existenz auf dieser Erde langfristig zu sichern. Die technologische Problemlösung muss durch Bedenkenforschung zeitnah begleitet werden. Beispiel: die Zukunft der Gesundheitswirtschaft sollte neben den technologischen Hotspots Künstliche Intelligenz, Drucken von 3D-Organen, Gentherapien, Smarte Sensoren und Wohnungen u.s.w. die Würde des Menschen nach einem eigenbestimmten Leben in den Vordergrund stellen.

An unserem Fachbereich bilden wir Studierende aus, die später einmal auf den Gebieten des Life Science Engineering arbeiten. Und zwar als Ingenieure! Sie werden es sein, die Prozesse und Produkte in den Branchen Biotechnologie, Pharmatechnik und Lebensmitteltechnologie maßgeblich bestimmen. Weniger in der Forschung als vielmehr in der täglichen Herstellung, Entwicklung und Qualitätskontrolle. Hier liegt eine ganz besondere Verantwortung! Es handelt sich nämlich um Produkte, die als Wirkstoffe, Nährstoffe, Ergänzungsmittel, Additive und persönliche (Körper)-Schutzmittel täglich von Menschen bzw. Tieren aufgenommen werden bzw. mit ihnen in Kontakt kommen. Wohl und Wehe sind von der Reinheit und Identität dieser Stoffe maßgeblich abhängig. Auch die Informationen über diese Produkte werden von großer Bedeutung für Kunden, Patienten und Verbraucher! Die Herkunft von Rohstoffen-Daten, tierethische Grundsätze bei deren Haltung und Tötung, nachhaltige Produktion + Entsorgung und der Umweltschutz stehen hinter diesen Produkten. Diese Werte sind eigentlich nicht neu, jeder modern eingestellte Mensch möchte ethisch handeln!1 Aber neue technologische Bedingungen und Möglichkeiten (wie z.B. Gentherapien oder Automatisierung humaner Handlungen) müssen zu neuen Wertedenken führen, insbesondere auch zu neuen Strategien und Ideen, um Werte zu erhalten im “Spagat” zwischen Moral und Gewinn! Wir wollen erfolgreich sein und gut! Aber genau das sind wir derzeit nicht! Aufgrund der stetigen Wachstums-Gesellschaft geraten uns immer wieder Prozesse und Handlungen außer moralischer Kontrolle.

Dies ist zugleich der Appell an die nächste junge Generation, Veränderungen einzuleiten. Das setzt wiederum voraus, dass sich diese Generation intensiv und ehrlich mit der Wirklichkeit beschäftigt: Ethik stiftet Unruhe hin zum tieferen Nachdenken über die Folgen unseres Tuns2. Und: Wir brauchen Orientierung auf unserem Wege zum neuen Wertedenken: Es muss uns gelingen, durch mehr Kommunikation und Diskurse zwischen Experten und Laien eine umfassende Folgenethik zu entwickeln. Wir sollten erkennen, dass dies kein Bollwerk gegen unsere Interessen ist, sondern ein Geländer für den Weg einer neuen Generation von erfolgreichen und mit ihrem Berufsbild zufriedenen Ingenieuren.

1 An Hand von Fallbeispielen aus den Gebieten Biotechnologie, Lebensmitteltechnologie, Pharmatechnik und Allgemeiner Ingenieurtechnik diskutieren die Studierende im Fach Ingenieurethik das Pro und Contra von Entscheidungen und geben eigene Lösungsvorstellungen an.

2 Martin Lendi (2003) www.research-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/147811/eth-26888-01.pdf   

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